Hamburg. Vermächtnisse zeigen, wie verkorkst eine Familie ist. Die Hamburger Autorin Gisela Stelly Augstein erzählt davon im neuen Buch.

„Moral ist gut, Erbschaft ist besser.“ Hat der große Fontane einst seiner Tochter Martha geschrieben. Kann man, ganz pragmatisch, so sehen. Aber Erben ohne Moral? Kann unschön werden, wenn man beteiligt ist (und welche Erbengemeinschaft kommt ohne den Mindestzusatz „zerstritten“ aus), ist aber erst recht dankbarer Stoff für Romane und Serien. In der Arte-Mediathek läuft seit einiger Zeit die dänische Erfolgsserie „Die Erbschaft“, ein exzentrisches Familiendrama um vier erwachsene Geschwister (ehelich und unehelich), die sich aufs Saftigste um den Nachlass ihrer Künstlerinnen-Mutter fetzen. Reich an Intrigen, Missgunst, Geheimnissen, schmerzhaften Blessuren und Versehrungen. Und am Jungen Schauspielhaus dreht sich „Die Asche meines Vaters“ im aktuellen Spielplan doppeldeutig um eben jene.

Vererbt wird ja so einiges, nicht nur im besonders wohlhabenden Hamburg: Vermögen, Schulden, Augenfarbe, Traumata. Dass auch die Hamburger Autorin Gisela Stelly Augstein so ihre Erfahrungen gemacht hat, mit dem Erben und der Moral und insbesondere mit herausfordernden Familienangelegenheiten, darf unterstellt werden. Gisela Stelly Augstein (81) war einst mit dem „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein verheiratet, länger übrigens als die anderen Ehefrauen (insgesamt gab es derer fünf, sie war die vierte). Und auch nach der Ehe und nach dessen Tod 2002 ist Augstein seiner schreibenden Ex-Frau zu einer Art literarischem Lebensthema geworden.

Gisela Stelly Augsteins neuer Roman „Der Fang des Tages“: eine Geschichte über das Nicht-Erben

Der üppige Familienroman „Goldmacher“, erschienen vor elf Jahren, ist an seinem Leben „entlanggeschrieben“, wie sie es damals selbst formulierte. Auch in ihren „Keitumer Gesprächen“ ging es 2018 – gar nicht mal so verklausuliert – um dynastische Verwicklungen; im Speziellen um die Tatsache, dass der Publizist Jakob Augstein nicht der leibliche Sohn seines Ziehvaters Rudolf war, sondern Sohn der Übersetzerin Maria Carlsson (Augstein-Ehefrau Nummer drei) und des Großschriftstellers Martin Walser.

Eine Episode, die sich (nicht unter Klarnamen, aber auch nicht mühevoll verschlüsselt) auch im neuen Stelly-Roman findet. „Der Fang des Tages“, goldfarben gebunden in der Edition W erschienen, ist eine Geschichte über das Erben – oder vielmehr: über das Nicht-Erben oder noch genauer: über die Angst vor dem Nicht-Erben beziehungsweise vor dem Nicht-genug-Erben. Was einen ganzen Haufen hässlicher Kräfte zu wecken vermag.

„Der Fang des Tages“: Hinter der Tapetentür verbirgt sich eine zweite Erbschaftsangelegenheit

Stelly zieht ihre Leser in einen immer rasanter wirbelnden Strudel der verkorksten Familienangelegenheiten, angefangen mit dem fiktiven Textil-Clan Escher, der sich nach dem Tod der Patriarchin um eine Villa am Hundekehlesee bekriegt. Den See gibt es in Berlin tatsächlich, und das Setting ist schon deshalb passend gewählt, weil bereits im Namen die Machtkämpfe anklingen, die Unterwerfung der einen und die Skrupellosigkeit der anderen. „Die Hundekehle“ wird das Anwesen von den zur Testamentsvollstreckung eilig angereisten Geschwistern verkürzt genannt, endlich zubeißen will das ganze Rudel. Vor allem die Rüden haben sich bereits in der Vergangenheit große Brocken der familiären Beute gesichert.

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Doch das Testament hält Überraschungen parat – und auch die Handlung entwickelt sich auf ihrem Höhepunkt unvermutet. Denn hinter der Tapetentür der nur vermeintlichen Hauptstory verbirgt sich eine zweite Erbschaftsangelegenheit. Gisela Stelly lässt eine Nebenfigur einen Roman im Roman erfinden, und der spielt nicht in der Mode-, sondern in der Medienbranche. Hier ist der Patriarch noch am Leben, so gerade eben jedenfalls, die potenziellen Erbinnen und Erben und Witwen bringen sich bereits in Stellung. „Succession“ lässt grüßen, und als habe die Autorin die allzu naheliegenden Realitätsbezüge wie in einer literarischen Geheimschatulle sichern wollen, spukt in dieser zweiten Ebene neben dem Augstein-Patchwork („Doppeltes Vaterglück“) auch noch der Geist von Leo Kirch sehr süffig als Romanfigur Leo K. durch die Story in der Story.

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Beim Lesen fürchtet man bisweilen, sich in dem Vermächtnislabyrinth zu verlaufen. Allzu viele Namen, allzu viele Verstrickungen, Anspielungen, Seitenstränge und lose Enden lauern zwischen den Zeilen. Die Lektüre ist dennoch eine unterhaltsame, und die Botschaft kommt eh an. „Nicht jeder, der auf eine Erbschaft scharf ist, kommt auf seine Kosten“, zitiert Gisela Stelly auf dem Buchrücken. Nicht Fontane, sondern Willy Brandt.

Gisela Stelly Augstein liest gemeinsam mit Catrin Striebeck am 18.10., 19 Uhr, im Literaturhaus. Karten gibt es zu 15/18 Euro in der Buchhandlung Samtleben, T. 220 51 45, info@buchhandlung-samtleben.de