Hamburg. Gisela Stelly widmet der Vaterschaft ihres Ex-Mannes ein poetisches Büchlein

    Nicht einmal 100 Seiten. Für derart raumgreifende dynastische Verwicklungen, wie sie Gisela Stelly Augstein, Autorin und einst eine der Ehefrauen des legendären „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein, hier zum Thema ihres neuen Buches macht, ist das wirklich verblüffend schmal. ­Leidenschaft, Lügen, Macht, Liebe, ­Verrat, Erbe und ein „Vatermord“ – es sind schon aus weniger Zutaten ganze Netflix-Serien gestrickt worden.

    Und auch hier sind mühelos mehrere Staffeln denkbar: In Stellys „Keitumer Gesprächen“ geht es um die (mittlerweile wohlbekannte) Tatsache, dass der heutige Chefredakteur des „Freitags“, Jakob Augstein, nicht der leibliche Sohn seines Ziehvaters Rudolf ist, sondern der Sohn der Übersetzerin Maria Carlsson (Augsteins dritte von fünf Ehefrauen) und des Schriftstellers ­Martin Walser. Was er selbst, also ­Jakob, in einem Interview 2009 öffentlich machte, als sein gesetzlicher Vater, also Rudolf, bereits sieben Jahre tot war.

    Eine „Neuvermessung“ der beteiligten Familien hatte diese Erkenntnis zur Folge, wobei auch Stelly Augstein offenlässt, wer eigentlich wann genau wie viel über diese Vaterschaft wusste.

    Sie lässt vielmehr in zarter, hübsch ironischer und sehr poetischer Anlehnung an shakespearesche Geister die Residenten des Keitumer Friedhofs sprechen. Jedenfalls den einen, Augstein, der starb, bevor er es in der Grabstellen-Warteliste „auf einen der wattseitigen Plätze geschafft“ hatte. Der andere ist „Fritzchen“, gemeint ist der Feuilletonist Raddatz, der dem Publizisten auf denselben Sylter Friedhof nachfolgte (wattseitig!) und dort nun als vermeintlicher Mitwisser befragt wird. Totengespräche also, reichlich Storm- und Shakespeare-Zitate, „eine Wiederholung der Nachbarschaft zu Lebzeiten“.

    Gisela Stelly beschäftigt sich in ihrem Werk nicht zum ersten Mal mit ihrem früheren Ehemann, vor allem ihr starker Familienroman „Goldmacher“ hatte vor ein paar Jahren ihn, seinen Werdegang und sein publizistisches Vermächtnis zum Thema, auch wenn Stelly trotz aller offensichtlichen Parallelen ausdrücklich keine Augstein-Biografie, keinen Schlüsselroman, sondern eine fiktive Geschichte erzählen wollte. Wenn ihr Roman „Moby“ 2005 so etwas wie die Ouvertüre zum „Goldmacher“ war, dann sind die „Keitumer Gespräche“ nun wohl eine Art Nachspiel, das Stelly wiederum mit einem Dialog der Hexen aus „Macbeth“ einläutet: um den „Wirrwarr“ geht es da, den „Hurlyburly“, als den Stelly auch das Durcheinander in der Familie Augstein wiederholt beschreibt.

    Dass die Umstände der Kund­machung sie damals selbst fassungslos gemacht haben müssen, lässt sich ­erahnen: „Wie nebenbei gesagt von ­seinem Ältesten. Ein nebenbei gesagter nebensächlicher Nebensatz. Durch den sich unser Resident ganz nebenbei entleibt sah. Es war eine Art Mord. Vatermord.“ Rudolf Augstein wäre in diesem Jahr 95 geworden. Sie spuken zweifelsohne noch herum, die Seelen der ­Gestorbenen.