Hamburg. Von wegen Pianisten-Panik – Pierre-Laurent Aimard meistert alle 18 Ligeti-Etüden und sorgt für einen begeisterndes Grenzerlebnis.
Mehr als einen halben Tag lang hatte der Klaviertechniker den Flügel vorbereitet und abgehärtet. Wahrscheinlich war auch ein kräftiger Schuss Drachenblut mit im Spiel. Der Pianist selbst sah am Ende, nachdem er mit seiner rechten Handkante die letzten höchsten Cs in die Stratosphäre der Tastatur gehämmert hatte, auch nicht mehr ganz taufrisch aus, doch jeden anderen als Pierre-Laurent Aimard hätte man nach diesen 45 Minuten von der Bühne direkt zur Eistonne tragen müssen.
Sensation im Großen Saal der Elbphilharmonie
Nur einen Abend nach dem so bravourösen wie klugen Brahms-Abend mit Krystian Zimerman war dieser Auftritt der weltweit kompetentesten Ligeti-Fachkraft die nächste pianistische Musikfest-Sensation im Großen Saal der Elbphilharmonie.
Und dass viele der rund 2000 Menschen durch einen Klavierzyklus aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor Begeisterung von den Sitzen gerissen werden, ist ein Ereignis, das sich auch nicht allzu oft einstellt. Erst recht nicht in jener Stadt, die der Wahl-Hamburger Ligeti selbst einmal frustriert als „schalltoten Raum“ abgebürstet hatte, in dem er „sehr unbekannt“ und „sehr unaufgeführt“ sei.
Aimard behielt, wie auch immer, den Durchblick
Selbst extrem nervenstarke Virtuosen muten sich live höchstens einige der „Études pour piano“ zu, die Ligeti, Stück für Stück, mindestens bis an den Rand der Unspielbarkeit schrieb. Von einigen gibt es außerdem Versionen für mechanisches Klavier, weil zwei Menschenhände für deren Anforderungen eindeutig einige Finger zu wenig haben. Aber Aimard spielte – weil er es offensichtlich kann – alle 18 Etüden, aus den Noten, doch ohne Pause, ohne Abkühlung. Unfassbar, buchstäblich, aber wahr.
Diese Musik von Menschenhand gespielt und tatsächlich bewältigt zu hören, ist ein Grenzerlebnis. Es passiert viel zu viel, um beim einmaligen Mithören allen Abläufen folgen zu können. Doch Aimard behielt, wie auch immer, den Durchblick, er geriet nicht in verständliche Pianisten-Panik, als sich eine dieser Etüden wie Debussy auf Speed aus beschaulichem Anfang in Ekstase schraubte, als eine andere mehrfach gegeneinander versetzte Klangstrudel verlangte. Aus einer Trillerreibung entstand ein Kaleidoskop aus Akkorden, in einer der Etüden wurden die beiden Arme des Interpreten sehr dekorativ in die Extrempositionen geschickt.
Pianist küsst die Ligeti-Noten
Dass eine der Inspirationen die „Player Piano“-Amokläufe des anders genialen Eigenbrötlers Conlon Nancarrow waren, hörte man den Etüden ebenso an wie die Faszination, mit der Ligeti komplexe Rhythmen übereinander schichtete, als wollte er austesten, nach wie vielen Takten alles zusammenbricht. Die kleineren Ruheinseln in den langsameren, lyrischen Episoden waren aber immer nur von kurzer Dauer, trotz der strikten Vorgaben durch die Notenmassen behielt Aimards Interpretation immer eine spielerische, fast schon verspielte improvisatorische Leichtigkeit.
Vorglühen mit Bartók
Zum Vorglühen für diesen Irrsinn hatte Aimard zunächst einige Stückchen aus Bartóks „Mikrokosmos“ gespielt; obwohl das eine oder andere nicht ganz schikanenfrei war – im direkten Vergleich zur Akrobatik bei Ligeti waren sie geradezu lächerlich simple Fingerübungen.
Immerhin: Sie führten vor Ohren, aus welchem Traditionskreis einige der Inspirationsquellen Ligetis stammen. Und bevor Aimard, stolz, aber stolz wie ein senkrecht gebliebener Preisboxer nach der überlebten letzten Runde, die Bühne verließ, küsste er die Ligeti-Noten, die unscheinbar auf dem Flügel lagen. Ohne absolute, angstfreie Liebe, ohne so viel Hingabe wäre dieser erstaunliche Abend nicht möglich gewesen.