Hamburg. Frank Engelbrecht von der Kirchengemeinde Blankenese über ausgeblendetes Leid, Fatalismus und schwindende Empathie.
Die aktuellen Bilder und Nachrichten aus Israel sind so grauenvoll, dass manche sich davor zurückziehen. Vielleicht aus Angst, vielleicht aus Selbstschutz. Aber was macht das mit dem Mitgefühl der Menschen? Frank Engelbrecht ist der neue Pastor in der Kirchengemeinde Blankenese, zuvor hatte er 20 Jahre lang in Hamburgs Hauptkirche St. Katharinen gewirkt. Der Hamas-Überfall auf Israel ist auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Engelbrecht hatte, als Teilnehmer an einem christlich-jüdischen Dialogprojekt, 1994 neun Monate in Jerusalem verbracht. Noch heute pflegt er enge Kontakte nach Israel. Ein Gespräch über die Kraft des Glaubens und die Frage, ob Empathie endlich ist.
Kirche in Hamburg: „Herr Engelbrecht, gibt es noch Hoffnung angesichts des Schreckens?“
Es gibt Menschen, die angesichts der scheinbar unaufhaltsamen weltpolitischen Eskalationsspirale mit ihren Kriegen und Krisen zunehmend fatalistischer werden. Können Sie das verstehen?
Ich kann das zwar verstehen und mich doch nicht damit abfinden, dass wir in einer Zeit leben, die sich zunehmend verhärtet, die zunehmend verbitterter und hoffnungsloser wird. Die Leichtigkeit ist weg. Das merke ich vielerorts in meinem Engagement in Kirche und Stadt, wo oft Bedenken und Sorge an die Stelle von Neugier und Experimentierfreude getreten sind. Die Fähigkeit, zu neuen Horizonten aufzubrechen, die Lust etwas zu verändern: All das ist viel weniger geworden. Und dann sehe ich die letzten Wahlergebnisse mit den starken Gewinnen für die AfD und die darauf folgenden Diskussionen über Migration und frage mich, warum nicht gesehen wird, dass das nur ein Teilaspekt ist.
Wie meinen Sie das?
Hier wird an vermeintlichen Lösungsstrategien gearbeitet, die der Komplexität des Themas gar nicht gerecht werden. Und weil sich daraus keine echten Lösungen ergeben können, wird das perspektivisch leider zu weiterer Verzweiflung führen. Anstatt uns der Komplexität anzunehmen, vor die das Leben uns stellt, geben wir uns mit Vereinfachungen zufrieden. Das bereitet mir Sorge.
Pastor Frank Engelbrecht: „Der Glaube steht dafür, einen offenen Horizont zu haben“
Was kann der religiöse Glaube – egal welcher – an dieser Stelle bewirken?
Der Glaube schafft Raum. Man darf einfach mal ganz ungefiltert klagen, denken Sie nur an den Psalm „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ aus der Passionsgeschichte. Zugleich bietet der Glaube die Möglichkeit, das Fest des Lebens zu feiern, egal wie die Umstände gerade sind. Das gilt auch im Alltag: Ihr Kind hat an dem Tag Geburtstag, an dem der Überfall auf Israel stattfindet. Dann darf ich trotzdem diesen Geburtstag fröhlich feiern, die Bedrückung, die real da ist, kommt und wird ihren Raum haben, aber Sie müssen deshalb Ihrem Kind nicht zusätzlich noch die Freude an diesem Tag nehmen. Ich darf die Trauer herausschreien und dafür haben wir eine Sprache und Rituale, etwa in Trauergottesdiensten, und ich kann mich an der Schönheit des Lebens erfreuen. Nehmen Sie Jesus und sein letztes Abendmahl: Er wusste, dass er am nächsten Tag festgenommen und vermutlich sterben würde. Trotzdem hat er noch einmal mit seinen Jüngern ein großes Fest gefeiert. Der Glaube steht dafür, einen offenen Horizont zu haben: Die Grenze des Horizonts, bis zu der mein Auge reicht, ist nicht das Ende der Welt. Wenn ich diesen Glauben verliere, bleiben zwei Möglichkeiten: tiefste Verzweiflung oder ein völliger Zerfall der Gesellschaft, in der jeder nur noch an sich selbst denkt.
Manche glauben ja auch, dass irgendwann das Paradies kommt, und dann ist eh alles gut…
Dieser Glaube vermag zu trösten, birgt aber zugleich die Gefahr der Weltverachtung. Da gehe ich nicht mit. Es gibt einen schönen Text von Dietrich Bonhoeffer über den Optimismus, in dem er schreibt, dass der Optimismus eine lebensverändernde Kraft ist. Es geht immer um das Engagement für eine bessere Welt. Die Aussicht auf das Reich Gottes ist ein Versprechen, das in unser heutiges Leben wirken soll. Es geht darum, dieses Reich jetzt schon ein wenig zu erfahren und das erreicht man nicht mit Gleichgültigkeit oder Fatalismus. Dieses Reich soll eine Art Leitbild sein, etwas, wonach wir streben, auch wenn wir es nie endgültig erreichen. Das gehört zu unserer Menschenlichkeit, dass wir an dieser Hoffnung festhalten, dass wir die Dinge zum besseren wenden können. Deshalb bedeutet der Glaube an das Paradies gerade nicht, dass wir die Hände in den Schoß zu legen und sagen: Der liebe Gott macht das schon.
„Ich glaube an ein Netzwerk von guten Gedanken, das sich um die Welt spannt“
Was entgegnen Sie Menschen, die Friedensgebete und -demonstrationen in der aktuellen Situation als sinnlos, weil wirkungslos, empfinden?
Das Gebet ist ein Glaubensakt und keine empirische Methode, es geht nicht darum, jemanden etwa wortwörtlich gesundzubeten. Aber es kann uns starkmachen. Denken Sie nur an die friedliche Revolution in der DDR. Damals wurden in Kirchen Kerzen entzündet und es wurde gemeinsam gebetet. Natürlich hat das nicht direkt die Mauer zum Einsturz gebracht, aber es hat den Menschen eine unglaubliche Energie gegeben, die dann dazu beigetragen hat, dass es zum friedlichen Fall der Mauer kam. Gebete oder auch die angesprochenen Demonstrationen gehen nicht ins Leere, sie werden gehört und gesehen und lassen uns Kraft schöpfen. Ich glaube an ein Netzwerk von guten Gedanken, das sich um die Welt spannt und schon die Erkenntnis, nicht allein zu sein, hat eine große Wirkung.
In Deutschland wird derzeit sehr viel über Geflüchtete diskutiert, auch darüber, Leistungen für Menschen aus der Ukraine zu streichen, die vor anderthalb Jahren noch mit offenen Armen aufgenommen wurden. Gibt es ein Ende des Mitgefühls?
Tatsächlich können wir das beobachten. Das haben wir ja schon 2015 erlebt. Wenn aus einer spontanen Hilfe eine kontinuierliche Situation wird, kann das irgendwann zu Erschöpfungszuständen bei Menschen führen, ein Gefühl der Überforderung. Das sollten wir ernst nehmen: Es gibt so etwas wie eine Grenze der eigenen Kraft. Das Problem, das ich sehe, ist, dass wir angesichts der wachsenden Probleme anfangen Sündenböcke zu suchen: Dann sind auf einmal die Geflüchteten die Wurzel allen Übels, oder die, die auf Gefahren des Klimawandels hinweisen, oder die Obdachlosen, die in unseren Innenstädten lagern. Da sind wir wieder bei diesen Vereinfachungen, die zu gar keinen echten Lösungen führen, sondern nur dazu, dass wir die Probleme immer weiter aufschieben. Das können wir uns nicht leisten: Umweltschutz, Gerechtigkeit, Frieden, Wohlstand in Würde und Menschlichkeit für alle gehören – in all ihrer Komplexität – ganz oben auf die Agenda.
- Neuer Antisemitismus-Vorwurf gegen Hamburger Gastprofessoren
- Jüdisches Museum Rendsburg: „Stets verschont geblieben“
- Elbphilharmonie Hamburg: Friedliches Konzert in kriegerischen Zeiten
Neigen wir inzwischen dazu, das Leid so weit wie möglich auszublenden?
Mag sein, und das kann auch hilfreich sein, wenn wir damit vermeiden, dass die Vielfalt der Schrecken uns lähmen. Aber wenn wir das zu weit treiben, werden wir vollkommen irrational, denn je länger wir vor den Problemen wie etwa dem Klimawandel die Augen verschließen und so tun, als wenn nichts wäre, desto größer werden zwangsläufig die Folgekosten. Und zwar für alle Menschen.
Wen erreichen Sie mit Ihrem Engagement? Wer hört Ihnen zu? Die ohnehin Bekehrten?
Das wäre so, als wenn wir nur in unserer Kirchengemeinde blieben, aber erstens sind Gottesdienste öffentliche Veranstaltungen und außerdem gehen wir raus in den Stadtteil, in die Schulen und Kindergärten, und melden uns zu Wort – auch in einem Interview wie diesem. Hier erzählen wir von einer Hoffnung, die uns zu Weite und Menschlichkeit ermutigt und immun macht gegen Vereinfachungen. Diese Geschichte braucht heute mehr denn je so viel Reichweite wie möglich.