Hamburg. In der Elbphilharmonie luden die Hamburger Kammermusikfreunde zu „Bach 100.000!“ Ein Abend, der auch für Ruhe und Frieden stand.

Darf man das eigentlich? Das Weltgeschehen ausblenden, Musik genießen und darin abtauchen, während Menschen anderswo unvorstellbares Leid durchmachen? Diese Frage kann einen schon mal streifen, während das Licht im Großen Saal der Elbphilharmonie herunterdimmt und langsam Ruhe einkehrt, auch innerlich.

Elbphilharmonie Hamburg: Friedliches Konzert in kriegerischen Zeiten

Die Antwort heißt wohl: Ja, natürlich darf man. Weil Kultur existenziell wichtig ist. Für das eigene Seelenheil sowieso. Und um sich, gerade jetzt, bewusst zu machen, welch überwältigende Schönheit und utopische Größe der menschliche Geist eben auch hervorbringen kann.

Kaum ein Komponist würde, in solchen Dimensionen gedacht, besser passen als Johann Sebastian Bach. Der mit seiner Musik unter anderem so empathisch zu trösten vermochte. Genau 100.000 Tage war es am Sonntag her, seit er, im Jahr 1749, in Leipzig seinen letzten Heiligabend erlebt hat. Dieses Rechenspiel haben die Hamburger Kammermusikfreunde zum Anlass genommen, um Bach ihr achtes Kammermusikfest zu widmen. Feinsinnig verzahnte das Programm Werke und Sätze von ihm mit Stücken von Komponisten, die ihn verehrt und sich mitunter ausdrücklich auf sein Schaffen bezogen haben.

Bachs e-Moll-Sonate: ein sanfter Gesang, wie Balsam fürs Gemüt

Dabei mussten die Ideen der historischen Aufführungspraxis ausnahmsweise mal draußen bleiben. Die Interpretinnen und Interpreten des Abends spielten Bachs Musik fast durchweg „modern“. Also etwa auf Instrumenten, die es zu seiner Zeit noch gar nicht gab. Wie hinreißend das klingen kann, demonstrierten die Querflötistin Jelka Weber – Mitglied der Berliner Philharmoniker – und der Pianist Severin von Eckardstein mit Bachs e-Moll-Sonate. Geschmeidig, warm und weich schmiegte sich der Flötensound an den Flügel an. Besonders anrührend: das Andante. Ein sanfter Gesang, wie Balsam fürs Gemüt.

Noch ein Stückchen weiter weg vom Original rückte das A-Dur-Konzert. Eigentlich für Cembalo und Orchester geschrieben, aber hier in einer Fassung für Klavier und Orgel zu hören. Ob Bach das gemocht hätte? Wissen wir natürlich nicht. Sicher ist dagegen, dass er selbst eigene und fremde Werke wiederverwertet und umgearbeitet hat, wie es damals gängige Praxis war.

Ludwig Hartmann, Vorsitzender der Kammermusikfreunde, moderierte den Abend

Von dieser Praxis erzählte Ludwig Hartmann, Vorsitzender der Kammermusikfreunde, gewohnt fachkundig und locker in einer seiner Moderationen. Und kündigte damit eine spannende Gegenüberstellung an: Begleitet von zwei Streichern und Orgel, beziehungsweise Cembalo, sang der Countertenor Franz Vitzthum erst die berühmte Arie „Bereite dich, Zion“ aus dem Weihnachtsoratorium – und dann deren Vorlage, die Arie „Ich will dich nicht hören“ aus einer weltlichen Kantate. Bach hat hier seine Musik recycelt und bloß den Text geändert. Fertig war der Weihnachtssound. Faszinierend.

Allerdings fehlte der Interpretation da zumindest teilweise das barocke Stilempfinden. Der Altus Franz Vitzthum, kurzfristig eingesprungen, sang wirklich schön, mit weichem Timbre und einem sicheren Gespür für die Schwerpunkte der Phrasen. Genau so, wie es die Musik braucht. Schade nur, dass sich die beiden Streicher davon nicht anstecken ließen. Eigentlich sprechen die Instrumentalstimmen in Bachs Vokalwerken ja die Betonungen der Texte mit. Aber davon war fast nichts zu spüren, kein Wechsel von schweren und leichten Silben, kein gemeinsames Atmen mit dem Sänger. Und auch kein sensibles Ohr für die Balance. Nach der Pause, bei einer weiteren Arie, drängte die Geige zu sehr in den Vordergrund. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Die transparente Akustik der Elbphilharmonie trägt ja auch ganz leise Töne.

Elbphilharmoie: Sopranistin Yeree Suh – wie eine musikalische Bitte um Frieden

Nein, in der barocken Klangsprache sind die Geigerin Hellen Weiß und der Cellist Gabriel Schwabe – beides exzellente Musiker, keine Frage – eher nicht zu Hause. Dass sie sehr wohl betören können, erlebte das Publikum vor allem im Repertoire des 19. Jahrhunderts. In Auszügen aus Schumanns „Studien in kanonischer Form“, die Motive von Bach aufgreifen und ins romantische Legato fortspinnen. Und im Finale einer Suite von Rheinberger für Orgel, Cello und Geige, in der die beiden Streicher mit dem Organisten Sebastian Küchler-Blessing satte Farben in den Raum strahlten.

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Eindrucksvoll. Ebenso wie die Auftritte von Gabriel Schwabe mit einer Gruppe seiner Studentinnen und Studenten. Als achtköpfiges Celloensemble, zum Halbkreis positioniert, spielten sie zwei Sätze aus den Bachianas Brasileiras von Villa-Lobos. Eine Werkreihe, die Elemente aus Bachs Musik mit brasilianischen Rhythmen und Melodien vermischt. Genial, dieser Mix und dieser vielsaitig-seidige Klang.

In der Aria setzt Villa-Lobos noch eine Sopranstimme obendrauf. Und wie die Sopranistin Yeree Suh da, am Ende des Abends, ihr Timbre über den Celli schweben ließ, summend, sprachlos, mit geschlossenem Mund: Das konnte man auch als musikalische Bitte um Frieden hören.