Hamburg. Am Thalia gibt es seit 30 Jahren die inklusiven Eisenhans Projekte für Menschen mit und ohne Behinderung. So wird gefeiert.

Freundlich leuchtet die Sonne in die Aula des Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte Hamburg. Theaterpädagoge Herbert Enge versammelt 14 Schauspielerinnen und Schauspieler in einem Stuhlkreis. Gemeinsam wird die letzte Probe analysiert. Was hat gut funktioniert? Was hat noch nicht geklappt?

Zum Gesang von Kylie Minogues mitreißendem „Come Into My World“ wird der Auftritt geprobt. Manon Wetzel startet ihren elektrisch gesteuerten Rollstuhl und bewegt die Arme. Die anderen folgen ihr im Rolli oder als Fußgänger. Lusala Vumbi-Loko schiebt den Rollstuhl von Maike Inselmann. Herbert Enge schaut mit kritischem Blick zu. „Das machen wir noch mal“, sagt er dann freundlich, aber bestimmt. „Seid nicht so schüchtern. Nehmt euch den Raum. Ich möchte Action sehen. Keine Langeweile!“

Theater Hamburg: Inklusionsprojekt Eisenhans wird 30 - „Besser als Psychotherapie“

Alltag auf einer jeden Theaterprobe. Aber was hier entsteht, dient einer besonderen Feier. Die Eisenhans Theaterprojekte, eine Kooperation vom Thalia Treffpunkt des Thalia Theaters und Leben mit Behinderung Hamburg, wollen mit der Aufführung „Never give up! Eisenhans“ am 8. Oktober im Ballsaal des Thalia in der Gaußstraße ihr 30-jähriges Bestehen begehen.

Man spürt, dass es Herbert Enge, dem langjährigen Leiter des Thalia Treffpunkts, noch immer eine Herzensangelegenheit ist. Mitte der 1980er-Jahre hatten ihn der damalige Thalia-Intendant Jürgen Flimm und sein Dramaturg Wolfang Wiens ans Haus geholt. Enges Anliegen ist in all den Jahren dasselbe geblieben: „Ich möchte den Menschen, die nicht so im Fokus der Gesellschaft stehen, eine Bühne geben.“

Rund 30 Songs umfasst das unter der Leitung von ihm und Katja Meier entwickelte Jubiläumsstück. Von Sidos „Never Give Up“ über Johnny Cashs „Hurt” bis zu Sister Sledges „We Are Family”. Mal präsentieren kleine Gruppen einzelne Szenen, mal stolziert Mirko Kuball mit verrückt designten Sonnenbrillen über den imaginären Laufsteg.

Inklusionsprojekt Eisenhans: Neue Horizonte, Sichtbarkeit, Teilhabe, Gemeinschaft

Die Bewegung steht im Vordergrund, aber Manon Wetzel, Mitwirkende der ersten Stunde, rezitiert noch einmal jenen Text aus dem frühen Stück „Der Eisenhans. Kein Märchen nach den Gebrüder Grimm“, beginnend mit den Worten „Ich bin ein hässliches Monster…“ Der Text handelt von einem Ungeheuer, das vom König aus dem Urwald geholt und in einen Kerker gesperrt wird und den Prinzensohn dahingehend verzaubert, dass sie beide gemeinsam die Welt erkunden. Und darum geht es im Grunde bis heute bei Eisenhans: um neue Horizonte, Sichtbarkeit, Teilhabe, Gemeinschaft. Und das auf durchaus überraschende, spielerische, auch mal provokante Weise.

„Das Stück handelt von Entfremdungserfahrungen, die die Menschen leben und erleben in der Gesellschaft. Von Themen wie Selbstständigkeit und Ausgrenzung“, erzählt Herbert Enge. Die 14 Darstellerinnen und Darsteller dieser gemischt erwachsenen Gruppe im Alter zwischen 20 und 60 Jahren – daneben gibt es noch eine Gruppe für Kinder und eine weitere für Jugendliche – haben unterschiedliche, teils auch mehrfache Handicaps. All das interessiert Herbert Enge bei den Proben aber nicht. „Ich nehme ihre Angebote an. Es geht ja darum, miteinander ins Spiel zu kommen. Und das unterscheidet sich nicht von anderen Menschen, mit denen wir beim Thalia Treffpunkt arbeiten.“

Theater mit Handicap: In den Werkstätten fühlen sich viele intellektuell unterfordert

Also probiert und feilt die Gruppe weiter am Ausdruck, entwickelt die Dinge gemeinsam im engen Dialog und häufig aus Improvisationen heraus. Rund 140 Stücke sind in den vergangenen 30 Jahren auf diese Weise entstanden. Alle Schauspielerinnen und Schauspieler teilen den Wunsch nach einem normalen Berufsleben und sind hoch motiviert bei der Sache. In den Werkstätten fühlen sich viele intellektuell unterfordert. „Theaterspielen ist besser als Psychotherapie“, sagt Manon Wetzel. „Es ist toll, dass man auch mal rumschreien kann.“ Und Lusala Vumbi-Loko ergänzt: „Es ist interessant, in andere Rollen zu schlüpfen, ein anderer zu sein. Man kann auch mal die Sau rauslassen.“

In der Kunst hat sich manches entwickelt in den letzten 30 Jahren. Vorreiter wie das Schweizer Theater Hora oder das australische Back to Back Theatre haben internationale Preise erhalten. In Hamburg sind das Theater Klabauter und die Gruppe Meine Damen und Herren aus der Theaterszene genauso wenig wegzudenken wie eben auch Eisenhans.

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Die gesellschaftliche Aufgabe der Inklusion ist dabei nicht kleiner geworden. Und so muss Herbert Enge lange nachdenken auf die Frage, ob sich die Lage verbessert habe: „Die Themen haben 2023 genauso eine Aktualität wie 1993. Sind die Normalbürgerinnen und -bürger den Menschen gegenüber zugewandter? Nein. Nimmt die Gesellschaft das als Problem wahr? Nein. Helfen Beschlüsse der Vereinten Nationen zur Inklusion in Schulen? Nein.“

Es bleibt also viel zu tun. Aber zuerst kommen die Feierlichkeiten, die auch noch eine Fotoausstellung und ein Konzert der Band Bitte Lächeln! umfassen. Das Wichtigste für die kommenden 30 Jahre bleibt das Motto des Jubiläumsauftritts: niemals aufgeben.

30 Jahre Eisenhans: „Never give up!“ Sa 8.10., 12 und 15 Uhr, Thalia Gaußstraße Ballsaal, Gaußstraße 190; www.thalia-theater.de