Er ist Künstler, Rampenbauer und nun auch noch Liftboy: Chrisdian Wittenburg sorgt in Hamburg für mehr Barrierefreiheit

Wenn sich Chrisdian Wittenburg von Zeit zu Zeit von seinem Atelier in Ottensen in Richtung Fleetinsel aufmacht, wäre man gern dabei – allein für den Fall, er käme in eine Fahrzeugkontrolle. Was er denn da alles an Bord habe, könnte die Frage dann lauten, und Wittenburg würde wahrheitsgemäß antworten: „Na ja, ein paar Rollstuhlrampen und ein bisschen Werkzeug und natürlich mein Liftboy-Kostüm.“

Eine frei erfundene Szene, klar. Obwohl man Chrisdian Wittenburg dann doch ein wenig zum Anhalten bringt, in der neuen Folge des Abendblatt-Podcasts „Von Mensch zu Mensch“ – rund eine Stunde dauert das Gespräch mit dem 57-Jährigen, der in dieser Zeit so viele Fragen stellt, wie er Antworten gibt.

Er hat Kunst studiert und Psychologie, arbeitet als Coach und bei der „Tagesschau“

Von ungefähr kommt das nicht. Wittenburg hat ein Studium an der Hochschule für bildende Künste absolviert, zuvor ein Psychologie-Studium abgeschlossen. Er arbeitet in Teilzeit bei der „Tagesschau“ – als Grafiker – und seit 2018 als Resilienz-Coach. Und dann ist da noch dieser Verein, der seine Herzensangelegenheit ist, den er mit Leben und Projekten füllt, wann immer er kann.

Chrisdian Wittenburg, der „Liftboy“ in der Admiralitätstraße
Chrisdian Wittenburg, der „Liftboy“ in der Admiralitätstraße © HA | Chrisdian Wittenburg

Angefangen hat alles mit einer kleinen Begegnung. Chrisdian Wittenburg erzählt sie mit einem Lächeln im Gesicht, ein schöner Moment ist das, gleich zu Beginn. Irgendwann in den 1990er-Jahren war das, als er Ute Lorenz kennenlernte, eine Frau mit einer tetraplegischen Zerebralparese. „Ute konnte ihre vier Gliedmaßen nicht so bewegen wie gesunde Menschen“, erklärt es Wittenburg, „sie saß im Elektrorollstuhl, an dem auch einer ihrer Arme festgeschnallt war, weil er sonst unkontrolliert hochgeschnellt wäre. Mit dem anderen Arm hat sie einen Sprachcomputer gesteuert – und abends gern ein Bier getrunken.“

Gemeinsam seien die beiden viel unterwegs gewesen, ins Alte Land gefahren und dort auf den Deichen herumgerollert. Irgendwann entstand dabei die Idee, einen Verein zu gründen, um für die vielen gemeinnützigen Aktionen, die Wittenburg plante, Spenden sammeln zu können. 1997 war es schließlich so weit. „UTE e. V.“ wurde gegründet, ein Verein für den engagierten Umgang mit Behinderung, es gibt ihn bis heute.

Rollstuhlrampen am Schulterblatt, Anfang der Nullerjahre – eine Premiere

Wer sich einen Überblick über die aktuellen Projekte verschafft, merkt schnell, welches Thema im Mittelpunkt steht: die fehlende Barrierefreiheit im öffentlichen Raum. Auch das hat eine Vorgeschichte. „Ute aß gerne Moussaka, und wenn wir unterwegs waren und vor dem griechischen Restaurant eine Stufe war und vor dem chinesischen nicht, dann gab es eben keine Moussaka“, erzählt Wittenburg.

Ob es diese Erfahrung war, die ihn auf sein erstes großes Rampenprojekt Anfang der Nullerjahre brachte? Wenn man mit Freunden von Wittenburg spricht, dann ist es diese Aktion, die ihnen als Erstes zu ihrem Freund einfällt.

Es war eine Kunstaktion, wie sie das Schulterblatt im Hamburger Schanzenviertel noch nicht erlebt hatte: Chrisdian Wittenburg baute Rampen und installierte sie vor Bars und Geschäften. „Kunst im öffentlichen Raum?“, schrieb er darauf, weil er sich selbst nicht sicher war: Mache ich das als Künstler oder als Aktivist? Eine Frage, die er bis heute nicht beantworten kann, die aber den meisten seiner Projekte zugrunde liegt, weil sie nie einfach nur einen Zweck erfüllen, sondern gleichzeitig eine Frage in den Raum stellen: Wie möchten wir als Stadt, als Gesellschaft leben?

Es geht um die Frage der Sichtbarkeit behinderter Menschen. Es geht um Teilhabe

In Hamburg zum Beispiel leben allein rund 126.000 Menschen mit Schwerbehinderung. Immer wieder stehen sie mit ihren Gehhilfen vor Arztpraxen oder Apotheken, Geschäften und Bars – und müssen draußen bleiben. Auch deshalb, weil es in Deutschland nach wie vor kein Gesetz gibt, das – wie zum Beispiel in den USA – die Inhaber zu einer barrierefreien Gestaltung verpflichtet.

Auch Wittenburg geht es nicht nur um Rampen und damit die Freiheit zu entscheiden, was man als Rollifahrer zum Abendbrot isst. Sondern auch um die Frage der Sichtbarkeit von Behinderung und den Umgang damit. In der Tordurchfahrt des FRISE-Künstlerhauses in der Arnoldstraße hängt seit diesem Sommer ein großes Bild, eine zierliche Frau ist darauf zu sehen im rot-weiß geringeltem Body, die auf der Seite liegt und ihre Beine an sich herangezogen hat – ein Bild, das eine so eigene Sprache spricht, dass man minutenlang daran hängen bleibt.

Denn die zarten Gliedmaßen der Frau irritieren, sie sehen aus, als hätte sie jemand grafisch verfremdet. Bis man die körperliche Behinderung begreift, die auf dem Foto zu sehen ist, und kurz darauf dann die Kraft, Schönheit und Ästhetik, die mit ihr verbunden ist. Das Foto hat Wittenburg 1995 von Ute Lorenz gemacht, 2013 ließ er es von einem Künstler überarbeiten, nun ist es erstmals in Plakatgröße abgezogen. Bis November ist es noch an der Durchfahrt zu sehen.

Grundschüler können Rollstühle ausprobieren und sich damit vertraut machen

Ein anderes UTE-Projekt ist der Besuch von Grundschulklassen mit Kinderrollstühlen, die dort von den Schülerinnen und Schülern ausprobiert werden können. Entweder im Unterricht oder in der Pause auf dem Schulhof, das darf jeder selbst entscheiden.

Ein weiteres Projekt entstand in den ersten Monaten der Coronazeit und in den harten Lockdowns, als vor allem Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen über Wochen isoliert blieben: „Chorona“, das auch vom Verein „Hamburger Abendblatt hilft“ unterstützt wurde. Die Idee dahinter: die Freude des gemeinsamen Singens denen zu bringen, die seit Monaten in ihrer Einrichtung hockten. Aber die ja trotzdem erreichbar waren, über den Innenhof ihrer Einrichtung. Da stand dann eine junge Frau mit E-Piano, Gitarre und Verstärker. Die Bewohner stimmten voller Glück ein.

Als „Liftboy“ bringt Wittenburg gehbehinderte Menschen in die Galerien

Und wofür braucht Chrisdian Wittenburg nun das Liftboy-Kostüm? Auch das ist eine wundervolle Geschichte. Von Zeit zu Zeit macht der 57-Jährige durch eine Rampenkonstruktion am Galeriegebäude an der Admiralitätstraße gehbehinderten Menschen die Ausstellungsräume zugänglich. Als „Liftboy“ bringt er sie bei Galerie-Rundgängen in die erreichbaren Etagen. Es ist Teil seines „Aktionsplans barrierefreie Kulturorte Hamburg“. Der Künstler versteht es auch als eine Art Performance. Die Freude an so einer ernsten Sache wie der Inklusion darf für ihn nämlich nie zu kurz kommen.

Der Verein UTE e. V. vergibt zurzeit kostenlos Rampen an Geschäfte, die dadurch berollbar werden. Wenn Sie ein Geschäft im Hamburger Stadtgebiet kennen, so wenden Sie sich gerne an UTE e. V., Arnoldstraße 26–30, 22765 Hamburg. https://ute-ev.de