Ohrenkuss: Eine Zeitschrift räumt mit Vorurteilen auf. Mirco Kuball ist der einzige Hamburger Autor des Magazins “Ohrenkuss“ - ein Heft von Schreibern mit Down-Syndrom.
Hamburg. Am liebsten schreibt Mirco Kuball über Berührungsängste. "Berührängste" sagt er und schaut mit ernstem Blick durch seine schwarze Kasten-Brille. "Immer Berührängste. Ich versteh' nicht, wieso die Menschen so Angst haben. Das ist so mein Thema." Mirco Kuball ist Schauspieler von Beruf. Er lebt in Hamburg, dreimal in der Woche hat er Theaterproben mit der Gruppe "Meine Damen und Herren", an den übrigen Tagen schreibt er. Manchmal mit der Hand, manchmal am Computer, oft diktiert er jemandem. In seinem Arbeitszimmer sammelt er Ordner: "Mircos Gedanken und Gefühle" steht auf einem, "Schreiben und Lesen" auf einem anderen. Mirco Kuball ist ein ordentlicher Mensch. Die Magazine "KIDS Aktuell" und "Ohrenkuss", die regelmäßig seine Texte drucken, findet er mit einem Griff. "Hier", sagt er und deutet auf einen ganzseitigen Artikel. "Hier hab' ich über Berührängste geschrieben. Das ist so mein Thema."
Mirco Kuball hat Down-Syndrom. "Wenn ich schreibe", erklärt er, "gucke ich den Buchstaben haarscharf an. Wenn ich merke, es ist ein Fehler, dann bin ich müde." "Trisomie 21" lautet der Fachbegriff für Mircos Behinderung, das Chromosom 21 ist bei Menschen wie ihm dreimal vorhanden. Ein Umstand, der ihre Lebenswelt entscheidend beeinflußt.
"Die können doch nicht lesen und schreiben", lautete lange eines der hartnäckigsten Vorurteile, die auch Humangenetikerin Katja de Braganca immer wieder hörte - selbst von Kollegen. Als sie während eines Kongresses auf den so eigenwilligen wie witzigen Text eines Jungen mit Down-Syndrom stieß, entschied sie, den Gegenbeweis anzutreten: Seit 1998 ist de Braganca Chefredakteurin von "Ohrenkuss", einem professionell produzierten Magazin, in dem ausschließlich Menschen mit Down-Syndrom schreiben. Mirco Kuball ist einer von ihnen.
"Fernkorrespondent" heißt er im "Ohrenkuss"-Jargon, seinen Stammsitz hat das Magazin in Bonn. 14 Autoren gehören dort zum festen Team, alle zwei Wochen ist Konferenz, zweimal im Jahr erscheint eine neue Ausgabe. "Wir machen keine therapeutische Arbeit", erklärt de Braganca. "Wir machen eine Zeitung." Die Autoren mit Down-Syndrom nennt sie "meine Kollegen".
Mirco Kuball, der bei seinen Eltern lebt und dem es mit entwaffnendem Charme gelingt, Gesprächspartnern sein Leben zu erklären, bekommt E-Mails mit den Themen geplanter Ausgaben, manchmal Fragebögen, die es erleichtern, die Gedanken zu ordnen. "Was ist böse?" lautete eine der Fragen zum Schwerpunktheft "Jenseits von Gut und Böse", für das auch Mirco Kuball einen Beitrag lieferte: "Böse ist dann, was viel bedeutet, rachsüchtig, der nicht benimmlustig ist / Böse ist, wenn man sich enttäuscht fühlt / Oder Traurigkeit / Oder du darfst halt nicht weinen." Viele der meist knappen Texte haben einen ungewohnten Zugang zur Sprache, eine eigenwillige Poesie. "Die Autoren sind unbeirrbar", sagt de Braganca. "Sie überlegen so genau, was sie sagen wollen, daß sie danach nichts mehr ändern." Rechtschreibung oder Grammatik werden nicht korrigiert.
Die Ergebnisse sind bemerkenswert. In der aktuellen Ausgabe schreiben zwei behinderte Autorinnen von ihrer Reise in die Mongolei. Zweieinhalb Wochen in der Steppe, Übernachtung in Jurten - durchaus auch auf den Spuren des Begriffs "mongoloid", mit dem Menschen mit Down-Syndrom früher bezeichnet wurden. Entstanden sind warmherzige Impressionen zu einem fremden Land: "Mongolisch ist mongolisch und sieht so aus wie mongolisch", heißt es prägnant an einer Stelle, "da muß man schon in den Asien fahren, um es dort zu sehen." Verblüffte Reaktionen ist de Branganca gewohnt: "Zweck des Projektes war auch, wissenschaftliche Vorurteile abzubauen. Das ist gelungen, obwohl manche so skeptisch waren, als hätte ich behauptet, Eisbären können klöppeln."
Mirco Kuball war nicht mit in der Mongolei. "Das ist zuviel des Guten", erklärt er und hebt abwehrend die Hände. "Ich hab' ja auch noch einen Job." Er wird wieder schreiben, wenn es um "Berührängste" geht, um Liebe, Partnerschaft oder seine zweite große Leidenschaft neben dem Schreiben: Theater. "Ich muß schon sagen", nickt er stolz und strahlt, "ich bin Künstler."
- Ohrenkuss-Lesung (Ausgabe "Mongolei") heute um 20 Uhr im KörberForum, Kehrwieder 12, Eintritt frei.