Zehn Jahre Theaterarbeit mit behinderten Menschen - das Thalia feiert am Wochenende Jubiläum. Ein Probenbesuch.

Hamburg. "Kannst du mal zumachen?", bittet die 40-jährige Dagmar Harth und schiebt ihre weißen Riemchensandalen vor. Sie sind zu eng. "Aber das ist nur, weil . . . weil ich so viele Strümpfe übereinander angezogen hab." Die Sandalen müssen trotzdem sein, denn sie gehören zum Kostüm.

Dagmar Harth ist eine von 27 Mitspielern des Thalia-Projekts "Eisenhans", einer Gruppe von behinderten und nicht behinderten Menschen, die gemeinsam Theater spielen. Sie ist Spastikerin, leidet an Sprachstörungen, und wie ihre Ensemble-Kollegen ist sie in die Turnhalle der Sehbehinderten- und Blindenschule am Borgweg gekommen, um für die Wiederaufnahme der "Odyssee ins Glück" zu proben.

Anlässlich ihres zehnjährigen Jubiläums präsentiert die Gruppe "Eisenhans" kommenden Sonntag und Montag eine Auswahl der bisher entstandenen Produktionen. Die "Odyssee ins Glück", die Homers Texte mit eigenen Ideen verbindet, ist die jüngste der insgesamt 19 Inszenierungen, die alle im Rahmen des "Thalia-Treffpunkts", der theaterpädagogischen Abteilung des Thalia-Theaters, und in Zusammenarbeit mit "Leben mit Behinderung Hamburg" entstanden sind.

Herbert Enge, Theaterpädagoge am Thalia-Theater und Leiter des integrativen Treffpunkt-Bereichs, ist für die Regie und damit auch den reibungslosen Ablauf der Probe verantwortlich. Verschwundene Kostümteile neu organisieren, Besetzungsschwierigkeiten klären und viele, viele Fragen beantworten - ein Geduldspiel, das vor allem mit "ganz viel Neugier und Spaß an der Sache" zu bewältigen ist. Und schließlich, so Enge: "Geduld ist im Theater ja überhaupt notwendig." Der Unterschied in der Arbeit mit Behinderten: Bestimmte Faktoren potenzieren sich.

So wie die stürmische Neujahrsbegrüßung durch Maren Hendricks, eine der Mitspielerinnen, die Enges Hand zu Beginn des Probenabends gar nicht wieder loslassen möchte. Die 30-Jährige leidet am Down-Syndrom und hat ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung. Für Enge bedeutet das manchmal eine Gratwanderung: "Meine Aufmerksamkeit und Herzlichkeit wird schließlich irgendwann auch von den anderen eingefordert. Zu Recht."

Im Stück spielt Maren Hendricks die Göttin Athene. Stolz trägt sie dazu einen roten Plastik-Feuerwehrhelm auf dem Kopf und schmettert laut und rührend selbstbewusst ihren Text in die Turnhalle: "Die Sonne liebt mich!" Dass ihr dabei ein Partner an die Seite gestellt werden soll, der dann auch noch die Handlung mit einem verdutzten "Boing!" kommentiert, passt ihr allerdings weniger. Es gibt Tränen.

Der Umgang mit der Gruppe der etwa 20 bis 40 Jahre alten Spieler, das wird zwischen Lob und Regieanweisung schnell deutlich, ist dem Umgang mit kleinen Kindern sehr ähnlich. Derselbe Überschwang, dieselbe Spielfreude, derselbe Trotz. "Mit dem Down-Syndrom beispielsweise geht oft eine begrenzte Konfliktfähigkeit einher", erklärt Enge, der sich seit 17 Jahren im Behindertentheater engagiert. "Ansonsten haben auch behinderte Menschen ganz einfach eine bestimmte Tagesform, so wie wir auch." Als Regisseur interessieren ihn die einzelnen Handicaps weder im Vorfeld noch während der Arbeit sonderlich. Im Gegensatz zu Betreuern oder Eltern, die ihre Schützlinge "oft stark, manchmal auch übermäßig" bewahren, will sich Enge seine Möglichkeiten durch übertriebene Rücksichtnahme nicht verbauen. Was den Behinderten nämlich so alles zuzutrauen ist, verblüfft selbst ihn immer wieder.

Natürlich sind die Voraussetzungen ganz unterschiedlich, aber sogar lange Textpassagen lernen viele Darsteller ebenso mühelos wie "normale" Schauspieler. Kann jemand nicht selbst lesen, hilft zur Not ein Betreuer. Oder, wie bei dem mehrfach gelähmten Rollstuhlfahrer Jörg Mantei, der Sprachcomputer. Für ungeübte Ohren nicht sofort verständlich, knarzt die Maschine seinen Text wie ein Roboter ins Publikum.

Bei "Eisenhans" stehen Autisten und Spastiker, sowohl geistig als auch körperlich behinderte Menschen gemeinsam auf der Bühne, eine große Fürsorge untereinander fällt auf. "Aber wir legen den Maßstab Theater an, nicht den Maßstab Sozialarbeit", betont Enge. Das nicht immer erfahrene Publikum wird dabei auch ein bisschen zum Anspruch erzogen. Über einen "riesigen Behinderten-Bonus" der Zuschauer - "auch wenn ich das natürlich verstehen kann" - ärgert sich Enge zuweilen sogar: "Denen reicht es manchmal schon, wenn ein Rollifahrer einmal von links nach rechts fährt." Zuschauer der "Odyssee ins Glück" werden erstaunt sein, wie viel mehr möglich ist.

Am 12. 1. um 11 Uhr wird "10 Jahre Eisenhans" mit einer "dramatischen Modenschau", der Theatergruppe "Das wilde Land", der Band "Hardbreakers" und zahlreichen Darstellern der ersten Stunde im Thalia in der Gaußstraße gefeiert. Die Matinee moderieren drei der jüngsten und zwei der ältesten Mitglieder der Gruppe.

"Odyssee ins Glück" wird am 12. 1. um 18 Uhr und am 13. 1. um 20 Uhr gezeigt, ebenfalls in der Gaußstraße. Die Produktion "Nachtgestalten" läuft dort am 12. 1. um 20 Uhr und am 13. 1. um 11 Uhr, die Lesung "Ich wollt einmal ein anderer sein als ich wesen bin" mit Texten von Behinderten und Musik der "Hardbreakers" findet am 13. 1. um 18 Uhr statt. Im Anschluss an alle Vorstellungen finden Nachgespräche statt. Karten zu 8 Euro/ermäßigt 6 Euro können unter Telefon 32 81 41 39 reserviert werden.