Hamburg. Letzte Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte vor der Schließung: Als Arbeiter und KPD einen politischen Umsturz planten
Aus Wohnungen und von Dächern wurde scharf geschossen, Straßen waren verbarrikadiert, 17 Polizeiwachen in Hamm, Eilbek und Barmbek wurden besetzt, Angreifer und Polizisten lieferten sich heftige Straßenkämpfe – am 23. und 24. Oktober 1923 herrschte Ausnahmezustand in Hamburg. Bewaffnete Arbeiter und Funktionäre der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) versuchten einen politischen Umsturz nach sowjetischem Vorbild herbeizuführen. Unterstützt wurden sie dabei von Teilen der Bevölkerung.
Am 25. Oktober beendete die Hamburger Polizei den Umsturzversuch; von den zahlreichen Verhafteten wurden 875 angeklagt und wegen Landesverrat, Waffenbesitz oder Plünderung zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. 1925 wurden viele der Haftstrafen in einer Amnestie aufgehoben. Der „Hamburger Aufstand“ war der blutigste der jüngeren Geschichte: Bei den Unruhen starben 17 Polizisten, 24 Aufständische und 62 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder.
Historische Ausstellung über Hamburg, die bedrohte Stadt
„1923 war ein dramatisches, ungesichertes Jahr“, sagt Ortwin Pelc. „Das Land war durch Hyperinflation, Ruhr-Besetzung, Hunger und Armut gebeutelt. Verschiedenste politische Kräfte zerrten an der fragilen Weimarer Republik: Zum einen gab es radikale rechte Gruppen, die ein autoritäres Regime einsetzen wollten, zum anderen linke Kräfte, die eine europaweite Revolution anstrebten. Die Bevölkerung war kriegs- und gewalterfahren, das erklärt, warum viele Demonstrationen und Streiks mit Toten endeten.“
Was bisher ungeklärt blieb: Warum in allen anderen deutschen Städten der Umsturz kurz zuvor abgeblasen worden war, nur in Hamburg nicht. Der Historiker Ortwin Pelc hat zu dem Thema intensiv geforscht und zusammen mit seinem Kollegen Olaf Matthes das maßgebliche Werk geschrieben: „Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923“, von der Landeszentrale für politische Bildung in Auftrag gegeben, ist die Basis für die Ausstellung „Hamburg 1923. Die bedrohte Stadt“ im Museum für Hamburgische Geschichte. Es ist die letzte Ausstellungseröffnung, bevor das Museum am 8. Januar 2024 für seinen großen Umbau schließt. Angepeilte Wiedereröffnung: 2027.
Zeitungen in ganz Europa berichteten über den „Hamburger Aufstand“
Inflationsgeld, aggressive Wahlplakate von links bis rechts, Schwarz-Weiß-Fotografien von aufgerissenen Straßen, Polizeipatrouillen und Sanitäter mit Rotkreuz-Fahnen zeichnen ein Bild der bedrohten Stadt. Aber daneben gab es auch Normalität zu der Zeit: So fand das Spring- und Dressurderby in Klein Flottbek wie gewohnt statt, der HSV wurde zum ersten Mal Deutscher Meister, und im Victoria-Stadion spielte die deutsche Nationalmannschaft vor 28.000 Zuschauern gegen die Niederlande (die Partie endete 0:0).
Zeitungen in ganz Europa, darunter „The Times“ in London, berichteten über den „Hamburger Aufstand“. Die aus Russland stammende Pazifistin Larissa Reissner (1895–1926) befragte unmittelbar nach den Ereignissen Beteiligte in Hamburg. Ihre Reportage „Hamburg auf den Barrikaden“ erschien auf Deutsch und Russisch und sorgte für viel Aufsehen. Es entstanden Erinnerungen, Erzählungen, Romane, Theaterstücke und sogar Kinderbücher zu dem Thema. Bereits 1926 wurde in Kiew der Film „Hamburg – Im Namen der Demokratie“ gedreht. Er wird am 9. Oktober im Metropolis-Kino im Begleitprogramm zur Ausstellung gezeigt.
Politiker Ernst Thälmann wurde durch Umsturz prominent
Eine politische Figur ragte besonders aus diesem Aufstand heraus: der KPD-Funktionär und spätere Vorsitzende Ernst Thälmann. Zusammen mit Hans Kippenberger verkörperte er den linksradikalen Parteiflügel und führte den Umsturz an. Regelmäßig wurde der Jahrestag unter den Kommunisten zelebriert. Nach der Inhaftierung und Ermordung Thälmanns 1944 während der NS-Herrschaft wurde er zu einem Teil des Gründungsmythos der DDR und bis zu deren Ende unkritisch verehrt, was sich etwa im Film „Ernst Thälmann. Sohn seiner Klasse“ äußerte.
Neben dem Blick zurück in Hamburgs Geschichte ist für die Ausstellungsmacher auch der Bezug zur Gegenwart spannend: „Ebenso wie der ‚Hamburger Aufstand‘ eine Zäsur darstellt, erleben wir auch heute ähnliche Ereignisse“, sagt Olaf Matthes. „Man denke an den Angriff auf das Reichstagsgebäude während der Anti-Corona-Demonstration 2020, die Stürmung des Kapitols in Washington 2021 oder die Besetzung des Regierungsviertels in Brasilia durch Anhänger des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro Anfang dieses Jahres. “
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„Mit der Ausstellung wollen wir fragen: Was macht eine wehrhafte Demokratie aus“, so Direktorin Bettina Probst. Für sie weisen die beiden laufenden Ausstellungen „1923“ und „Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History“ „die Richtung, in die das Museum gehen will. Wir wollen künftig stärker Phänomene aktueller Entwicklungen der Gegenwart aufgreifen.“ Um den Aufstand von 1923 auch in die sozialen Medien zu transportieren, wird es einen Workshop in Kooperation mit der Alfred Toepfer Stiftung geben: „How to TikTok History?“.
„Hamburg 1923. Die bedrohte Stadt“ 20.9.–7.1.2024, Museum für Hamburgische Geschichte (U St. Pauli), Holstenwall 24, Mo, Mi–Fr 10.00–17.00, Do 10.00–21.00, Sa/So 10.00–18.00, Eintritt 5,-/3,- (erm.), shmh.de