Hamburg. Das Museum für Hamburgische Geschichte zeigt auf, wie aus einer kleinen Graffiti-Szene eine ganze Jugend- und Subkultur entstand.
„Timpe, wem gehören die vielen Sprühdosen? Wir machen uns Sorgen, wenn wir so etwas im Auto finden! (Inclusive Sturmhaube). Bitte leb so, daß du es verantworten kannst, und bereit, die Konsequenzen zu tragen. Mami“. In diesem ganz wunderbaren, handgeschriebenen Zeitdokument vom Anfang der 1990er-Jahre ist alles drin, was die Graffiti-Szene zu der Zeit ausmacht: Illegalität, geheime Treffen, Sprühdosen in jeglicher Couleur.
Nur, dass Timpe im elterlichen Auto zu seinen Aktionen unterwegs war, ist ungewöhnlich. Meist fuhr man Bahn. Um schneller durch Hamburg zu kommen und weil man die Waggons während der Fahrt von innen „verschönern“ konnte (nachts in den Depots auch von außen).
Ausstellung Hamburg: „Eine Stadt wird bunt"
Der Brief liegt in einer Vitrine des Museums für Hamburgische Geschichte und ist Teil der Ausstellung „Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980–1999“. Sie erzählt anhand von großformatigen Fotografien, Zeitungsartikeln, Skizzenbüchern, Sprühdosen, Schallplatten und modischen Accessoires, wie Jugendliche Anfang der 1980er-Jahre, inspiriert durch Filme wie „Wild Style“, nachts loszogen und Schriftzüge an Mauern und Wände sprühten.
Wie sich nach und nach aus einer kleinen Graffiti-Szene durch Einflüsse des Hip-Hop eine Jugend- und Subkultur mit eigenen Codes und Regeln bildete, die das Gesicht der Stadt maßgeblich prägte, indem sie freie und brachliegende Industrieflächen etwa in Ottensen, St. Pauli, Altona-Nord und Eidelstedt nutzte und in offene Ateliers umwandelte.
„Graffiti sind ein Spiegel der Zeit"
Dass das Haus am Holstenwall neuerdings auch die jüngere Stadtgeschichte thematisiert, wurde schon mit der Tattoo-Schau um den Künstler Christian Warlich klar. Direktorin Bettina Probst will diesen Trend noch verstärken. Zu Beginn ihrer Amtszeit 2020 sei sie nach einem Ausflug zur „Peking“ an der Argentinienbrücke an mehreren beeindruckenden Pieces (so heißen die Graffiti-Werke im Fachjargon) vorbeigekommen. Im Gespräch mit dem damaligen MHG-Direktor Hans-Jörg Czech wurde die Ausstellungsidee geboren.
„Graffiti stehen sowohl für die historische wie für die gegenwärtige Entwicklung der Stadt und sind ein Spiegel der Zeit. Ebenso wie die Punk-Szene war und ist auch diese Szene von Protestkultur und politischem Bewusstsein bestimmt. Dies abzubilden ist mir besonders wichtig.“
Versammlungen am Bahnhof Dammtor waren "legendär"
Und damit die Besucherinnen und Besucher auch genau dort in Kontakt mit dem Thema kommen, wo es sich abspielt, nämlich auf den Straßen, Plätzen, Bahnhöfen und Hinterhöfen, führt eine eigens für die Ausstellung konzipierte App „Unsere Stadt wird bunt“ genau dorthin – auch wenn die flüchtigen Graffiti zum Teil längst schon wieder verschwunden sind. So erfährt man, dass 1986 der heute recht unspektakuläre S-Bahnhof Langenfelde in Eidelstedt Hamburgs erste Corner der Szene war. Täglich trafen sich dort mehr als ein Dutzend Writer, so die Bezeichnung für die Sprühkünstler, um sich über Bilder, Techniken und Neuigkeiten auszutauschen und nächste gemeinsame Aktionen zu planen.
„Legendär waren auch die Versammlungen am Bahnhof Dammtor“, erinnert sich Frank Petering, der selbst früher gesprayt hat. „Am Samstag ab 14 Uhr traf man sich bei McDonald’s, quatschte und zog dann gemeinsam mit der Bahn los. Später wurde die Gegend rund um den Bahnhof Jungfernstieg in der Szene beliebt, die mischte sich mit BMX-Fahrern und Skatern.“ Petering ist einer der vier Kuratoren der Ausstellung. Zusammen mit Mirko Reisser, Oliver Nebel und Andreas Timm stieg er tief in die Geschichte der Graffiti History ein, sprach mit damaligen Akteuren und sichtete zigtausend Dias. Sechs Jahre lang arbeiteten sie an dem Bild-Text-Band, der die Basis für die Ausstellung bildet. An einem Raum haben die vier mit besonders viel Herzblut gewerkelt: das Original-Jugendzimmer aus den 80ern.
Mirko Reisser gewann Wettbewerb „Gesprühter Zauber“
Mirko Reisser, der als DAIM weit über die Grenzen Hamburgs als Graffiti-Künstler bekannt ist, beschreibt die Stadt als offen und liberal gegenüber den Sprayern, weshalb sich Hamburg neben München, Berlin und Amsterdam auch zu einem Hotspot der Bewegung entwickeln konnte. Das wird auch daran sichtbar, dass die „SOKO Graffiti“ der Bahnpolizei auf der einen Seite die Subkultur mit allen Mitteln zu bekämpfen versuchte und auf der anderen Seite mit Graffiti-Wettbewerben und Gestaltungsaktionen die Sprühkunst in legale Bahnen lenken wollte. Den Wettbewerb „Gesprühter Zauber“ auf Kampnagel gewann übrigens Mirko Reisser.
1987 entdeckte die Hamburger Kulturbehörde ihr Interesse an dem Jugendtrend. Über einen Plakataufruf wurden Writer eingeladen, einige Wände am Museum der Arbeit zu gestalten. Aufgrund dieser Begegnungen kam eine in Auftrag gegebene Studie zu dem Ergebnis, dass den Writern „am Werk und seiner ästhetischen Wirkung“ gelegen sei.
Ausstellung Hamburg: Altonaer Museum thematisierte Graffiti
Als erstes Museum überhaupt befasste sich 1991 das Altonaer Museum mit dem Phänomen Graffiti. Torkild Hinrichsen, der damalige Leiter der Abteilung Kulturgeschichte, zeigte in „Narrenhände ...?“ Graffiti-Fotografien von Fritz Peyer. Was er allerdings verschwieg: Hinrichsen hatte Sprüher dazu eingeladen, im Hof des Museums Leinwände zu gestalten – unter den Augen der staunenden Publikums.
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Sein damaliger Chef sowie das Bezirksamt Altona seien wohl nicht sehr amüsiert gewesen, so Hinrichsen. Aber es gelang ihm, eine Brücke zwischen Hoch- und Subkultur zu schlagen. Und in gewisser Weise dazu beizutragen, dass Graffiti-Kunst heute im altehrwürdigen Museum für Hamburgische Geschichte zu erleben ist.
„Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980–1999“ bis 31.7.23, Museum für Hamburgische Geschichte (U St. Pauli), Mo, Mi–Fr 10.00–17.00, Sa/So 10.00–18.00, Eintritt 9,50/6,- (erm.), www.shmh.de. Abendblatt-Abonnenten mit TreueKarte erhalten bis zum 30.11. zwei Tickets zum Preis von einem an der Tageskasse des Museums.