Hamburg . 75 Jahre Abendblatt: 2015 stimmte das Unesco Welterbe-Komitee Hamburgs Antrag zu und bescherte der Stadt ihren ersten Titel.
Wer abends am Zollkanal spazieren geht oder eine Fleetfahrt zwischen Kehrwiederspitze und Wasserschloss macht, wird von der Magie eines besonderen Ortes gefangen genommen: Die ganze kaiserzeitliche Pracht der Speicherstadt mitsamt ihren Brücken und den mit Türmchen und Giebeln versehenen Lagerhäusern erstrahlt in vielen tausend Lichtern. Unvorstellbar, dass der rund ein Kilometer lange Backsteinkomplex zwischen Baumwall und Oberhafen noch vor gut 30 Jahren durch einen Zollzaun abgeschottet war und sich dorthin kaum jemand verirrte, so verlassen und verwahrlost erschien er den Menschen.
Die Speicherstadt, das größte zusammenhängende und einheitlich geprägte Speicherensemble der Welt, wurde zwischen 1885 und 1927 auf einer Inselgruppe im Süden der Hamburger Innenstadt gebaut, wo sich traditionell die Kontorhäuser der Handelsunternehmen konzentrierten. Das benachbarte Kontorhausviertel wurde zwischen 1921 und 1943 erbaut und galt damals als das modernste Bürohausviertel in Europa. Gekrönt wird das Viertel durch das von Fritz Höger gebaute Chilehaus mit seiner an einen Schiffsbug erinnernden Spitze.
Weltkulturerbe: Als die Speicherstadt in Hamburg berühmt wurde
Der expressive Klinkerbau war schon 1998 einmal als Unesco-Welterbe vorgeschlagen worden, hatte aber damals keine Chance. Das änderte sich, als 2005 der Verlag Gruner+Jahr und die Deutsche Umwelthilfe sich dafür einsetzten, dass das gesamte Kontorhausviertel auf die Vorschlagsliste kommt und zusammen mit der Speicherstadt nominiert wird. Die Aussichten waren jetzt ungleich besser, weil mittlerweile erkannt wurde, dass auf der bisherigen Welterbe-Liste die technischen und industriellen Bauaufgaben ebenso fehlten wie die Architektur und der Städtebau des 20. Jahrhunderts.
Der Senat war also zuversichtlich, als er die Kulturbehörde damit beauftragte, die für die Nominierung erforderlichen Gutachten zu erstellen. Unter der Leitung von Agnes Seemann vom Denkmalschutzamt wurde ein Team zusammengestellt, das die benötigten Informationen zusammentrug und Bewertungen erarbeitete. Mit dabei: Ralf Lange, Kunsthistoriker und Kurator im Speicherstadtmuseum, der mit der Beschreibung der Speicherstadt und des Kontorhausviertels sowie der Darstellung ihrer Geschichte beauftragt wurde.
Kunsthistoriker Lange: „Auftrag war eine Zitterpartie“
Eine Menge Papier wurde nach Paris in die Zentrale der Unesco geschickt. Allerdings gab es bei der Sache einen Haken, erinnert sich Lange: „Dieser Auftrag war eine Zitterpartie. Auf der einen Seite war klar, dass die Unesco etwas Authentisches erhalten wollte, auf der anderen Seite waren weite Teile der Speicherstadt bei den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg komplett ausgelöscht oder zumindest stark beschädigt worden.“ Als eine hochrangige Delegation eines Tages im Museum stand, um sich einen ersten Eindruck von dem Lagerhauskomplex zu verschaffen, rutschte ihm denn auch raus: „Sie wissen schon, dass Sie etwas unter Schutz stellen wollen, dass zu 50 Prozent zerstört ist!“.
Offenbar konnten Langes Gutachten und die Eindrücke vor Ort aber doch überzeugen: Im Juli 2015 stimmte das Welterbe-Komitee auf seiner 39. Sitzung in Bonn dem Hamburger Antrag auf Aufnahme der Speicherstadt und des Kontorhausviertels mit Chilehaus in die Unesco-Welterbeliste zu und bescherte damit der Stadt ihren ersten Titel.
Weltkulturerbe: 2016 nahm Olaf Scholz die Urkunde entgegen
Das Komitee würdigte die beiden Viertel als „herausragende Beispiele von Typen von Gebäuden und Ensembles, die die Folgen des raschen Wachstums des internationalen Handels im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verkörpern“ und somit „einen oder mehrere bedeutsame Abschnitte der Menschheitsgeschichte versinnbildlichen.“
Ein Jahr nach der Anerkennung nahm Hamburgs damaliger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) am 27. Juni 2016 die Urkunde von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Festakt in der ehemaligen Kaffeebörse entgegen. „Unsere Erwartungen an die Außenwirkung dieser hohen Auszeichnung wurden bisher weit übertroffen. Schon jetzt wird die lange Tradition Hamburgs als Hafenstadt mit der Ernennung zum Welterbe weltweit stärker wahrgenommen“, so Scholz. Seit Vergabe des Titels verzeichne die Speicherstadt 15 Prozent mehr Besucher.
Speicherstadt Hamburg: „New York Times“ empfiehlt den Besuch
„Die Speicherstadt ist ein ganz anderer Ort geworden, eine Visitenkarte für die Stadt“, sagt der Lichtkünstler Michael Batz, der unter anderem den Blue Port inszeniert und seit 2001 die Speicherstadt illuminiert. In der Tat sind Fotos in warmes Licht getauchter Gebäude und Brücken seither um die Welt gegangen, ist die Speicherstadt zum Anziehungspunkt für Hamburger und Besucher aus aller Welt geworden. So zählte die „New York Times“ im Oktober 2017 die Speicherstadt mit ihren „Reihen neugotischer Gebäude aus rotem Backstein hoch über den Kanälen“ als einen Ort auf, den man selbst bei einem nur 36 Stunden kurzen Hamburg-Besuch unbedingt gesehen haben sollte.
Laut Ralf Lange ist es einem Hamburger Architekten zu verdanken, dass zumindest die Fassaden der historischen Speicherstadt heute wiederhergestellt sind und der Komplex als Weltkulturerbe anerkannt wurde: Werner Kallmorgen (1902-1979). Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er überwiegend Einfamilienhäuser gebaut. Sein beruflicher Erfolg setzte nach 1945 ein. Wiederaufbau des Thalia Theaters, Allgemeines Krankenhaus Altona, IBM- und „Spiegel“-Zentrale, Ernst Barlach Haus – für all diese prominenten Gebäude war Kallmorgen verantwortlich. Sein größtes Projekt wurde jedoch der Wiederaufbau der Speicherstadt nach Kriegsende. Diesen Auftrag beschaffte ihm sein Freund Ernst Plate, der 1946 zum Vorstandsvorsitzenden der Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Aktiengesellschaft, Vorläufer der heutigen HHLA, aufstieg.
Architekt Kallmorgen schätzte Bauweise der Kaiserzeit
Ein Glücksfall, wie sich herausstellen sollte. Der Gebäudekomplex wurde vom damaligen Denkmalschutz nicht ins Visier genommen. Aber Kallmorgen erkannte den Charme der alten Lagerhäuser und bemühte sich um eine objektive Beurteilung der Bauweise aus der Kaiserzeit. Er sprach von der „lustigen liebevollen Architektur der 80er-Jahre“ und stellte anerkennend fest, diese Speicher seien „wirkliche Architektur“. Der Architekt ließ die teilzerstörten Blöcke D, E, H, L, P und U rekonstruieren; von Block M und dem ehemaligen Speicher von Hanssen & Studt (Block R 3) ließen sich zumindest die Straßenfassaden erhalten.
Die neuen Blöcke O und T ließ Kallmorgen zwar modern gestalten, aber doch immer mit Bezügen zum Ursprungsort, was vor allem an der roten Backsteinfassade sichtbar wurde. Auch die Bauabteilung der für Planung, Bau und Betrieb verantwortlichen HHLA folgte seinem Konzept. Durch diese Mischung von rekonstruierten Fassaden und angepassten Neubauten gelang es ihm, den ursprünglichen Charakter der Speicherstadt wiederzugewinnen, ohne die Kriegsschäden zu leugnen.
Heute sitzen Agenturen, Künstler und Cafés in den Speichern
Acht Jahrzehnte lang blieb die Speicherstadt die unangefochtene Kathedrale der Warenlager. Das änderte sich erst, als 1966 die ersten Container nach Hamburg kamen: mobile, genormte „Lagerhäuser“ aus Metall, die sich fortan in immer größeren Mengen im Hafen stapelten. Heute sind die Quartiersmannsfirmen längst weggezogen, und außer Orientteppichen wird dort nichts mehr gelagert. Um die Jahrtausendwende ließ die HHLA rund 170.000 Quadratmeter Lagerfläche sanieren, um neue Mieter an Land zu ziehen. Seitdem sitzen dort Werbeagenturen, Künstler und andere Kreative, Restaurants, Bars, das Gruselkabinett Hamburg Dungeon, Miniatur Wunderland und das Speicherstadtmuseum.
Dessen Mitarbeiter informieren über die Geschichte des einst modernsten Lagerzentrums Europas, bieten regelmäßig Rundgänge durch das Welterbe und „Entdeckertouren“ für Kinder an. Der Rundgang führt durch das Kerngebiet der Speicherstadt mit Kaffeebörse, Kesselhaus und Sandthorquaihof und startet mit einer Einführung im Speicherstadtmuseum. Dort geht es um die Arbeit der Quartiersleute, die typischen Lagergüter und die Planung des Lagerhausviertels (ganzjährig jeden Sonntag um 11 Uhr und bis Ende Oktober auch jeden Sonnabend um 15 Uhr, Informationen unter:
speicherstadtmuseum.de).
Welterbe-Infozentrum soll ins frühere Kesselhaus ziehen
Welterbe verpflichtet: Weil der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser in den vergangenen Jahrzehnten in Hamburg immer größer geworden ist, sind die Kaimauern und damit auch die unmittelbar darauf gebauten historischen Gebäude in der Speicherstadt langfristig in ihrer Standsicherheit gefährdet. Insgesamt rund 190 Millionen Euro will die Stadt in den nächsten Jahren zum Schutz investieren.
Und die HHLA lässt als Eigentümerin die ehemalige Maschinenzentralstation am Sandtorkai aufwendig sanieren und eine kriegsbedingte Baulücke zwischen dem derzeit ungenutzten Bestandsgebäude und dem benachbarten Kesselhaus nach 80 Jahren durch einen Neubau schließen. Der zerstörte Kopfbau soll auf alten Fundamenten neu errichtet werden – modern, aber unter Berücksichtigung des Denkmalschutzes.
- HHLA wird komplett neu aufgestellt – Überraschung im Hafen Hamburg
- Kirche Hamburg: St. Katharinen – warum beliebter Pastor nach 20 Jahren geht
- Hamburg: „Spektakulär!“ – City soll eine High Line wie New York bekommen
Für die nahe Zukunft ist geplant, im früheren Kesselhaus ein Welterbe-Informationszentrum einzurichten. Bis dahin informiert die Stadt in einem ehemaligen Ladengeschäft im Chilehaus über die Hamburger Welterbe-Stätten. Und auch einen neuen Welterbe-Koordinator will die Kulturbehörde demnächst ernennen.