Hamburg. Die Hamburger Autorin Maiken Nielsen führt in ihrem neuen Roman ins Südfrankreich der 1980er-Jahre. Idyllisch – und dabei hochpolitisch.
Unmittelbares, heftiges Fernweh. Das ist es, was dieser Roman zuallererst auslöst. Man riecht den getrockneten Thymian und den Lavendel beim Lesen, fühlt die Sonne auf dem uralten Stein des Lubéron, schmeckt die Rosmarinkartoffeln, blinzelt ins gelbe Licht.
Schwer vorstellbar, Maiken Nielsens neuen Roman zu lesen, ohne anschließend sofort nach Zugverbindungen in die Provence zu googeln oder wenigstens ein Ratatouille aufzusetzen. Wobei – ihre Protagonistin fährt selten Zug.
Maiken Nielsens neuer Hamburg-Roman weckt tiefe Sehnsüchte
Sie ist per Anhalter unterwegs. Zwischen Apt – einem kleinen Städtchen im Département Vaucluse, wo die junge Fotografin Alex auf ihrer Europareise eher zufällig unter Lebenskünstlern, Einheimischen, Friedensbewegten und Drogensüchtigen strandet – und Hamburg-Niendorf, wo das bürgerliche Elternhaus steht.
Und das Fernweh – es zieht die Leserin nicht nur an einen anderen, wärmeren Ort, sondern insbesondere in eine andere Zeit. Eine Zeit, die trotz der angespannten weltpolitischen Lage noch eine Spur von Unschuld in sich trägt. Oder, so ehrlich sollte man dann doch sein: zu tragen scheint.
Ein Hamburg-Roman aus der Provence: „Man konnte sich einbilden, überall sei es so friedlich wie hier“
Es sind die 1980er-Jahre, der Kalte Krieg ist in Europa auf seinem Höhepunkt, in der Bundesrepublik hängen RAF-Fahndungsplakate in jedem Postamt, Alex’ Vater, ein Journalist, recherchiert zu untergetauchten Terroristinnen. Und Alex selbst recherchiert zum Leben an sich.
Sie lernt eine Gruppe Straßenkünstler kennen, verliebt sich in einen Seiltänzer, teilt mit der schönen Mado eine Scheune und verdient ihre Francs als „Forellentöterin“ in der Auberge. „Es war so leicht zu vergessen, was in der Welt vor sich ging, wenn man in der Provence lebte, dachte sie. Es genügte, keine Zeitung mehr zu lesen, kein Radio mehr zu hören. Man konnte sich einbilden, überall sei es so friedlich wie hier.“
Die Hamburger Autorin, heute im Brotberuf Nachrichtenredakteurin, Reporterin und Podcasterin für den NDR, weiß, wovon sie da schreibt. Zwischen Abitur und Studium in Aix-en-Provence reiste auch Maiken Nielsen, Jahrgang 1965, eine Zeit lang ziellos durch die Welt.
Im Lubéron-Gebirge blieb sie damals länger als beabsichtigt. Wer heute „Die Frau, die es nicht mehr gibt“ (Wunderlich, 448 Seiten, 24 Euro) liest, ahnt den Sog, den diese Landschaft, diese Zeit und insbesondere die schillernden Menschen, die sie dabei kennenlernte, auf sie ausgeübt haben müssen.
Nielsen gelingt es, in ihrem Roman einen intimen Mikrokosmos zu erschaffen, der zugleich weltumspannend und politisch und vor allem ein Spiegel seiner Zeit ist. Sie schreibt über Freundschaften, deren Bindungen enger sind als die familiären, über Orte, die noch nicht komplett touristisch erschlossen und durchgentrifiziert sind. Über Weltentrücktheit und Radikalisierung, über Spionage und Vertrauen.
Die Jugend, die hier porträtiert wird, balanciert am Abgrund
Alex lernt Französisch mit Alexandre Dumas und bewegt sich am Rande des Plateau d’Albion, wo Frankreich seine Nuklearwaffen stationiert hatte. Sie hält mit ihrer Kamera die schöne Bäckerin fest, die aussieht wie Sophia Loren, und das verlorene Hippiemädchen, das sich beim Heroinspritzen mit dem neuen Virus infiziert.
Sie spaziert durch die Ockerberge von Roussillon und (deutlich weniger euphorisch) durch das Niendorfer Gehege. Die Jugend, die hier porträtiert wird, in all ihrer Hoffnung und Sehnsucht und all ihrer Naivität, balanciert am Abgrund wie Alex’ große Liebe Loïc, der südfranzösische Junge mit den gelb gesprenkelten Augen.
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„Die Frau, die es nicht mehr gibt“ ist auch eine Geschichte über Identitäten und die Neuerfindung von Biografien – aus politischen Gründen ebenso wie aus persönlichen. Die Leserin weiß stets mehr als die Romanfigur, zumal Nielsen Teile der Handlung auch aus der Sicht der mysteriösen Mado erzählt.
Umso gespannter folgt man den so entschlossenen wie verletzlichen Frauen durch die Umbrüche jener Jahre, die sich über sinnlich erzählte Rückblenden und ohne sich allein in der Idylle zu verlieren immer mehr der Gegenwart annähern.
Maiken Nielsen verhält sich als Autorin dabei wie die von ihr erdachte Fotografin Alex: Sie lässt immer nur so viel Licht in das Bild, wie sie es gerade braucht. Um bis zum Schluss einen Rest des Geheimnisses zu bewahren.
Im Rahmen der Langen Nacht der Literatur liest Maiken Nielsen am 2. September, 18 Uhr, in der Hamburger Buchhandlung Hoffmann (Fuhlsbüttler Str. 106) aus ihrem neuen Roman, Eintritt 10 Euro