Hamburg. In Hamburg haben 53 Prozent der Schüler ausländische Wurzeln, Probleme häufen sich. Entscheidend ist laut Senat aber etwas anderes.
Es sind bildungspolitische Binsenweisheiten: Sprache ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Schullaufbahn. Und: Je bildungsnäher das Elternhaus, desto eher reüssieren auch die Kinder in der Schule – in kaum einem anderen Land in Europa ist dieser Zusammenhang so stark ausgeprägt wie in Deutschland.
Auch daher ließen diese Daten aufhorchen: Fast vier von zehn Hamburgerinnen und Hamburgern haben mittlerweile einen Migrationshintergrund, teilte das Statistikamt Nord vergangene Woche mit. Von 2014 bis 2022 ist dieser Wert von 31,5 auf 39,3 Prozent gestiegen, wobei die Zuwanderung nach Hamburg vor allem von außerhalb der EU stattfand, darunter zuletzt in erheblichem Maß aus der vom Krieg gebeutelten Ukraine.
Schule Hamburg: Wie geht Schule, wenn die Mehrheit zu Hause kein Deutsch spricht?
Für die Bildungspolitik noch wichtiger ist ein anderer Wert: In der Gruppe der unter 18-Jährigen haben in der Hansestadt bereits 56,1 Prozent einen Migrationshintergrund. Dabei gilt: Während in dünn besiedelten Regionen wie den Walddörfern oder den Vier- und Marschlanden nur wenige Minderjährige mit ausländischen Wurzeln leben und es in Blankenese oder Eppendorf auch nur jeweils rund ein Drittel sind, gibt es in Stadtteilen wie Billbrook (hier haben 98,5 Prozent der Minderjährigen einen Migrationshintergrund), Veddel (92,7 Prozent), Harburg (84,9), Jenfeld (81,4), Billstedt (80,3), Steilshoop (78,1) und Dulsberg (75,3) kaum noch Kinder und Jugendliche, die keine ausländischen Wurzeln haben.
Da stellt sich die Frage: Wie kann Bildung an Schulen gelingen, wenn eine Mehrheit der Schülerinnen und Schüler zu Hause kein Deutsch spricht? Wenn es zunehmend ethnisch oder religiös geprägte Konflikte an Schulen gibt, wie Schüler und Schulpolitiker berichten?
Wie viel Personal mehr bräuchten die Schulen, um mit dieser Entwicklung umgehen zu können? In der Schulbehörde beobachtet man natürlich auch, wie sich die Schülerschaft verändert und sieht darin auch eine „erhebliche und zunehmende Herausforderung“, so Behördensprecher Peter Albrecht.
„Migrationshintergrund“ haben auch Kinder österreichischer Ingenieure
Allerdings müsse man die Daten differenziert betrachten. Denn die Statistiker rechnen zur „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ nicht nur die ausländische Bevölkerung und alle von außerhalb Deutschlands Zugewanderten, unabhängig von ihrer heutigen Nationalität.
Wer als Kind ausländischer Eltern in Deutschland geboren und mittlerweile eingebürgert wurde, zählt ebenso dazu wie Minderjährige mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei denen mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund hat.
Das bedeutet: Flüchtlingskinder aus Afghanistan oder Syrien ohne Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur zählen ebenso zu dieser Gruppe wie die Nachkommen ehemaliger Gastarbeiterfamilien aus der Türkei oder Griechenland, die vielleicht seit Generationen im Land leben und zum Teil bestens integriert sind. Auch die Kinder österreichischer Ingenieure oder niederländischer Diplomaten finden sich in dieser Spalte der Statistiker wieder.
Schulbehörde: Viel entscheidender ist die Bildungsnähe des Elternhauses
„Für den Bildungserfolg ist die Frage nach dem Migrationshintergrund nicht primär entscheidend“, sagt Peter Albrecht daher. Zwar sei der Anteil an Schülerinnen und Schüler mit ausländischen Wurzeln im vergangenen Schuljahr mit 53 Prozent nahezu identisch mit den 56 Prozent der Unter-18-Jährigen. Doch das sei nicht das eigentliche Problem.
„Die Bildungswissenschaft geht davon aus, dass die Bildungsnähe des Elternhauses weitaus entscheidender ist für den Schulerfolg der Kinder als der Migrationshintergrund“, so Albrecht.
„Kinder aus bildungsnahen Familien, in denen die Eltern selbst gern und erfolgreich zur Schule gegangen sind und eventuell auch studiert haben, machen in der Regel die besseren Schulabschlüsse.“
Jeder dritte Hamburger Schüler spricht zuhause kein Deutsch – Tendenz steigend
Diese Erkenntnis gilt freilich auch für die Gruppe der Migranten: Die Akademiker-Kinder, deren Eltern zum Beispiel aus dem EU-Ausland nach Hamburg gekommen sind, wohnen mutmaßlich eher in „besseren“ Stadtteilen und sind eher selten eine zusätzliche Herausforderung für das Schulsystem.
„Bildungsferne Elternhäuser“, und das werden nach Beobachtung der Schulbehörde stetig mehr, verfügen dagegen in der Regel über geringere Einkommen und siedeln sich daher überwiegend in Vierteln mit günstigem Wohnraum an.
Die Herausforderung an den Schulen auf der Veddel, in Steilshoop oder Harburg ist also weniger der Migrationshintergrund bei 80 oder 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler als vielmehr die fehlende Förderung durch das Elternhaus. „Viel relevanter“ als die Herkunft sei aus Behördensicht der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit nichtdeutscher Familiensprache, bestätigt Albrecht. Dieser steige seit Jahren kontinuierlich und liege inzwischen hamburgweit bei 32,7 Prozent.
Wer Sprachförderbedarf hat, muss in die Vorschule gehen – das ist in Hamburg Pflicht
Die Schulbehörde hat schon vor vielen Jahren auf diese Entwicklung reagiert. So werden nach ihrer Darstellung aktuell 407 Lehrerstellen zusätzlich für Sprachfördermaßnahmen zur Verfügung gestellt, 21 mehr als im Vorjahr.
Zudem hat Hamburg bereits 2005 die „Viereinhalbjährigen-Vorstellungen“ eingeführt, bei denen jedes Kind an seiner künftigen Schule auch auf seine sprachlichen Fähigkeiten hin überprüft wird. Diese Untersuchungen seien verpflichtend und würden auch konsequent durchgesetzt, so Albrecht, notfalls per Bußgeld oder Hausbesuch.
Und noch eine Pflicht erwächst daraus: Wird beim Viereinhalbjährigen-Gespräch ein erheblicher Sprachförderbedarf festgestellt, muss das Kind diese Förderung in Anspruch nehmen. Da diese fast immer in einer Vorschulklasse stattfindet – nur in Ausnahmefällen kann eine Kita die Sprachförderung übernehmen –, kommt diese Regel praktisch einer vorgezogenen Schulpflicht gleich, so die Behörde.
Das betreffe aktuell rund 20 Prozent eines Jahrgangs. Weitere zwölf Prozent der künftigen ABC-Schützen hätten einen einfachen Sprachförderbedarf – zusammen genommen entspricht das wohl nicht zufällig dem Anteil von 32 Prozent an Elternhäusern, in denen nicht deutsch gesprochen wird.
Opposition fordert mehr Personal für Integration und Sprachförderung
Aus Sicht der Behörde nehmen Schulen und Lehrkräfte diese Herausforderungen „durchaus erfolgreich“ an. Das zeige sich etwa in mehreren aktuellen Bildungsstudien, wonach sich Hamburgs Schüler „als einziges Bundesland trotz der veränderten Schülerschaft stabil halten konnten“, so Albrecht, der insbesondere auf gut Platzierungen in den Bereichen Lesen, Zuhören, Rechtschreibung und Mathematik verweist.
Von der Opposition werden die Hamburger Maßnahmen durchaus gelobt, etwa die Internationalen Vorbereitungsklassen (IVK) an fast allen Schulen. Dennoch tue der Senat zu wenig, um die immer höhere Zahl an Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern, mit Sprach- oder sonstigen Integrationsproblemen zu unterstützen.
„Ein Großteil der Integrationsarbeit bei Kindern und Jugendlichen wird in Schulen und von sozialen Trägern in unserer Stadt geleistet“, sagt CDU-Fraktionschef Dennis Thering. „Diese gilt es zu stärken, vor allem personell sowie baulich.“
Deutsche Schüler werden mitunter als „Ungläubige“ und „Hurensöhne“ beschimpft
Die Zahl der IVK-Klassen müsse erhöht und der Unterricht für Grundschüler in den Erstaufnahmen für Flüchtlinge ausgebaut werden. Thering: „Je früher die Förderung von Kindern und Jugendlichen beginnt, desto erfolgreicher kann die Integration in unsere Gesellschaft gelingen. Hier darf der Hamburger Senat nicht am falschen Ende sparen.“
Was gescheiterte Integration bedeutet, erfahren immer mehr Schüler am eigenen Leib – aber anders als früher. Wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren ausländische Mitbürger als „Kanaken“ beschimpft und diskriminiert, werden jetzt dort, wo Schüler ohne Migrationshintergrund klar in der Minderheit sind, diese mitunter von der Mehrheit als „Kartoffeln“, „Ungläubige“ oder gleich „Hurensöhne“ beschimpft, wie Schüler und Eltern berichten. Manche reagieren darauf, indem sie die Schule wechseln.
Birgt Stöver (CDU): Beleidigungen, Diskriminierungen und Gewalt nehmen zu
Die Schulbehörde kann diesen Zusammenhang zwar nicht direkt bestätigen. Denn sie bekommt zwar die Anträge auf Schulwechsel auf den Tisch, erfährt in der Regel aber nicht die Gründe dafür.
Allerdings nimmt sie auch zur Kenntnis, dass bei der Anmelderunde im Winter viele bildungsnahe Eltern – und zwar mit oder ohne Migrationshintergrund – nicht mehr die wohnortnächste Schule für ihr Kind wählen, sondern auffallend oft eine in einem „besseren“ Stadtteil. Ihr Motiv wird zwar nicht abgefragt, liegt aber auch der Hand.
„Ich bekomme sehr häufig Rückmeldungen aus Schulen, dass dort Beleidigungen, Diskriminierungen und Gewalt zunehmen“, berichtet die CDU-Schulpolitikerin Birgit Stöver. Sie sieht ein Problem auch in den verfestigten Strukturen der Stadtteile, die oft entweder als reich und daher bevorzugt oder halt als arm und unattraktiv gelten. „Diese Strukturen müssen aufgebrochen werden“, so Stöver. „Das gelingt nur durch gute Stadtentwicklungspolitik, zum Beispiel durch Projekte wie den Sprung über die Elbe.“
Sabine Boeddinghaus (Linke): Kluft zwischen Arm und Reich ist das Hauptproblem
Damit hatte der Senat vor 20 Jahren vor allem eine Aufwertung Wilhelmsburgs angestoßen, etwa durch die Ansiedlung der Stadtentwicklungs- und der Umweltbehörde im Zentrum der Elbinsel und den Bau hochwertiger Wohnungen im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA.
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Für Sabine Boeddinghaus, Fraktionschefin und Schulexpertin der Linksfraktion, ist nicht der Migrationshintergrund der Kinder das Problem, sondern die eklatante Schere zwischen Arm und Reich: „Da der Bildungsabschluss vor allem an die soziale Herkunft gebunden ist, muss hier die Bildungspolitik ansetzen“, sagt sie.
Dass immer mehr Kinder einen Migrationshintergrund haben und in ihren Elternhäusern wenig oder kein Deutsch sprechen, „gilt für britische wie syrische und brasilianische Familien“, so Boeddinghaus.
Stadtteilschulen haben mehr IVK-Schüler und leiden stärker unter Lehrermangel
Wichtig sei daher, wirklich alle Schulen in die Pflicht zu nehmen, diesen drängenden Herausforderungen gerecht zu werden. Integrative Unterrichtskonzepte, die über eine Sonderbeschulung geflüchteter Schüler und Schülerinnen hinausgehen, müssten „schleunigst umgesetzt“ und der auf den Schulgemeinschaften lastende Druck müsse reduziert werden, vor allem durch mehr Personal.
Auf rund 900 zusätzliche Vollzeitstellen taxierte die Linke den Bedarf zuletzt. „Die Lehrkräfte benötigen dringend mehr Zeit für allgemeine Aufgaben, Beratung und Unterstützung“, so Boeddinghaus. „Der soziale Raum, den die Schulen bieten, muss gestärkt werden. Konfliktfrei geht es sicher nicht, aber die Konflikte brauchen pädagogische Bearbeitung.“
Die Linke beklagt schon lange „eine enorme Ungleichheit im Bildungssystem“. So hätten Schulen in schwierigen sozialen und räumlichen Lagen deutlich mehr Probleme, ausreichend Lehrkräfte zu finden und zu binden.
Von den ausländischen Schülerinnen und Schülern, die eine IVK-Klasse besuchen, seien 84 Prozent auf einer Stadtteilschule und nur 16 Prozent auf einem Gymnasium. Auch der Lehrermangel treffe die Stadtteilschulen viel stärker.
Dirk Nockemann (AfD): Wer soll an den Schulen wen integrieren?
„An den Schulen stellt sich die Frage, wer hier wen integrieren soll“, sagt AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann auf die Frage, inwiefern er die steigende Quote an Kindern mit Migrationshintergrund als Herausforderung sehe. „Kippt die integrierende Kraft der Mehrheitsgesellschaft, so ist auch die Sprache als Schlüssel für Bildung und Integration in Gefahr“, so Nockemann. „Hält diese Entwicklung an, wird Integration endgültig scheitern.“
Die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen zeichnen auf die gleiche Frage hingegen ein anderes Bild. „Unsere Bildungseinrichtungen haben auf die Entwicklung sehr gut reagiert und tausende Kinder und junge Menschen aufgenommen“, findet Kazim Abaci, integrationspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
„Das ist eine Herausforderung und gleichzeitig eine Chance für uns alle.“ Diese habe man gut bewältigt. Als Beispiele verweist er auf das Integrationskonzept des Senats, die überdurchschnittlich gute Ganztagesbetreuung in Hamburg und kleinere Klassen an Stadtteilschulen mit mehr Personal.
Linke: Zuwanderer nicht Problemfall, sondern Zugewinn
Diese Punkte nennt auch Filiz Demirel, migrationspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion und konstatiert: „Hamburg investiert schon seit Jahren in gute Bildung für Alle.“ Generell sei es „falsch, wenn Menschen, die vor Krieg fliehen, in der Öffentlichkeit als Problem dargestellt werden“.
Deutschland sei ein Einwanderungsland und brauche Fachkräfte, so Demirel: „Diese Menschen sind ein Zugewinn für unsere Gesellschaft. Wir müssen um sie werben, statt sie als Problemfall zu stigmatisieren.“