Hamburg. Nach den Vorwürfen aus der Feuerwehr-Führung werden auch aus anderen Behörden Vorwürfe erhoben. Gibt es ein strukturelles Problem?

Alles fing mit einem Verbesserungsvorschlag an. Dass sich immer mehr Mitarbeiter in ihrem Bereich über Überlastung beschwerten und sich sogar krankmeldeten, wollte Andrea* nicht so einfach hinnehmen. Man müsse doch irgendetwas tun, irgendetwas verändern, irgendetwas verbessern können, dachte sie – und schrieb an ihre Vorgesetzten eine sogenannte Überlastungsanzeige. Es war eine Mail, mit der sie auf die angespannte Situation aufmerksam machen wollte. Eine Mail, die als konstruktive Kritik im besten Sinne gedacht war. Und eine Mail, da ist sich Andrea heute sicher, die ihr Anfang vom Ende bei ihrer Arbeit bedeutete: „Diese Mail war wahrscheinlich das erste Zerwürfnis, mit dem alles anfing.“

Das „alles“. Für Andrea bedeutet das seit vier Jahren: Mobbing,Bossing und Straining. Es sind englische Begriffe, mit denen die meisten, die nicht selbst betroffen sind, gar nicht viel anfangen können. Doch für Andrea bedeuten diese Fachbegriffe vor allem eines: dass die Arbeit sie krank gemacht hat. Oder besser: Dass Menschen auf der eigenen Arbeit sie krank gemacht haben: „Ich fühlte mich komplett erschlagen.“

Mobbing: Nach der Feuerwehr gibt es weitere Vorwürfe aus anderen Behörden

Andrea ist eine von vielen, die vor knapp acht Wochen im Abendblatt den Artikel „Klima der Angst – Vier Feuerwehr-Chefs berichten“ über schwere Mobbing-Vorwürfe gelesen hat – und sich an ihre eigene Geschichte erinnert fühlte. Die Mitarbeiterin in leitender Funktion im Bereich der Behörde für Kultur und Medien schrieb einen Leserbrief und sagte, dass derartige Vorkommnisse leider nicht nur bei der Feuerwehr, sondern auch in anderen Behörden vorkämen. Und mit dieser Meinung war Andrea nicht allein.

Eine ganze Reihe von Lesern hatte sich nach dem Artikel in der Redaktion gemeldet – und auf ähnliche Missstände in anderen Behörden aufmerksam gemacht. Das Abendblatt prüfte jeden Einzelfall – und nahm am Ende zu drei Fällen intensiven Kontakt auf. Andrea aus der Behörde für Kultur und Medien, Birte* aus der Innenbehörde und Carmen* von der Polizei. Sie alle drei berichteten ausführlich von ihren Erlebnissen. Es wurden Akten und Mails gezeigt, Mobbingprotokolle zur Verfügung gestellt und weitere Zeugen benannt. Der Kernvorwurf von allen dreien: Genauso wie die Feuerwehr-Führungskräfte wurden auch sie gemobbt. Und mit jedem weiteren Gespräch, jedem weiteren Treffen, stellte sich immer mehr die Frage: Sind Hamburgs Behörden im Vergleich zur Privatwirtschaft besonders anfällig für Mobbing?

Experte: Ein Drittel aller Befragten Opfer von Mobbing-Attacken

Ja, glaubt Sebastian Hartmann. Der Jurist ist eine Art Mobbing-Experte. Der 34-Jährige hat sich seit seiner Studienzeit intensiv mit dem Thema beschäftigt, hat geforscht, eine nicht repräsentative deutschlandweite Studie mit mehr als 2000 Teilnehmern angefertigt, eine Dissertation geschrieben und vor wenigen Wochen sogar ein Buch mit dem Titel „Mobbing und Straining im öffentlichen Dienst. Eine rechtliche Würdigung juristisch vernachlässigter, aber real existenter Phänomene“ veröffentlicht. Im Gespräch mit dem Abendblatt sagt er: „Ein Drittel der Befragten im öffentlichen Dienst und in den Behörden war am Arbeitsplatz schon einmal Opfer von Mobbing-Attacken.“

Laut der Uni Würzburg geben sogar doppelt so viele Menschen im öffentlichen Dienst an, Mobbing am eigenen Leib erfahren zu haben, wie in den meisten Branchen der Privatwirtschaft. Die Universität bezieht sich dabei auf eine ältere Umfrage der Bundesregierung. Neuere Umfragen, die Vergleichswerte zwischen Privatwirtschaft und Behörden aufstellen, gibt es allerdings nicht.

Trotzdem ist sich Hartmann sicher, dass das Problem bei Behörden deutlich gravierender ist. Als Jurist hat er schon viele mutmaßliche Mobbing-Opfer vor Gericht betreut. Ein zentrales Problem: „Der Nachweis von Mobbing ist aus rechtlicher Sicht nur äußerst schwer zu führen“, sagt er. „Viele Anwälte lehnen derartige Fälle aufgrund des hohen Aufwands und des ungewissen Ausgangs sogar gänzlich ab.“ Eine seiner Beobachtungen: „Gerade bei Ordnungsdiensten wie bei der Polizei oder der Bundeswehr scheint es eine sehr große Mobbing-Gefahr zu geben.“

Auch bei der Polizei gibt es Mobbing-Vorwürfe

Das kann auch Carmen, eine leitende Polizeibeamtin, bestätigen. Sie sitzt im Wohnzimmer in einer Wohnung im Westen Hamburgs und berichtet. Mehr als eine Stunde lang. Über Mobbing bei der Polizei, über das gezielte Vorgehen gegen sie, aber auch gegen andere Kollegen und Kolleginnen und über die Parallelen zu den Vorwürfen bei der Feuerwehr. Die gesamte Kommunikation vor und nach dem Treffen findet über die verschlüsselte Kommunikationsapp Signal statt. Normale Gespräche am Telefon seien ihr zu unsicher, die Sorge, möglicherweise sogar abgehört zu werden, ist genau wie bei Teilen der Feuerwehr-Führung groß. Und ähnlich wie viele der Feuerwehr-Chefs war auch sie in psychologischer Behandlung, auch sie hat sich juristische Hilfe genommen. Nur offiziell reden, das wolle sie aus Sorge vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen und vor einer Verschlimmerung der Situation nicht.

Das ist bei Andrea und bei Birte anders. Beide geben in langen Gesprächen an, durch das jahrelange Mobbing fix und fertig zu sein, nun eigentlich nichts mehr zu verlieren zu haben. Bei Birte wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, Andrea wurde mehrfach krankgeschrieben und hat sich auch immer wieder für längere Zeit unentgeltlich beurlauben lassen.

In Bayern beging eine Polizistin nach Mobbing Selbstmord

„Das Thema Mobbing ist auch ein volkswirtschaftlicher Faktor: Sehr viele Beamte fallen krankheitsbedingt sehr lange Zeit aus. Anders als in der Privatwirtschaft kommt hierfür der Steuerzahler auf“, sagt Anwalt Hartmann. „Obwohl es im öffentlichen Dienst so viele Mobbing-Fälle gibt, landen nur die allerwenigsten davon wirklich vor Gericht. Und meistens geht es dann um Fälle, bei denen zu spät gehandelt wurde wie bei dem Beispiel einer Polizistin in Bayern, die gemobbt wurde und schließlich Selbstmord beging. In ihrem Fall haben die Angehörigen Klage eingereicht.“

So schlimm ist es bei Andrea, Birte und Carmen glücklicherweise nicht. Doch auch Andrea hat ihre Situation schwer zu schaffen gemacht – auch abseits des Arbeitsplatzes. „Meine Familie hat mir immer öfter gesagt, dass ich gar nicht mehr ich selbst sei, dass ich immer so niedergeschlagen wirke“, sagt sie.

Mobbing vor Gericht nur schwer nachweisbar

Die Frau sitzt vor einem Café in Altona und bestellt sich einen Cappuccino. Ihr ist klar, dass man sie aufgrund ihrer Funktion und ihres Falls möglicherweise identifizieren kann. Trotzdem hat sie einen falschen Namen gewählt. Nicht, damit man sie nicht erkennt. Sondern, damit die Namen ihrer Mitarbeiter und auch ihre Vorgesetzten, denen sie das Mobbing vorwirft, nicht öffentlich werden. Sie will nicht, dass irgendjemand durch den Artikel auf der öffentlichen Anklagebank sitzt, sie will aber sehr wohl auf das Thema aufmerksam machen: „Ich habe mich schließlich entschieden, dass ich mich nicht zum Schweigen bringen lasse – auch wenn Mobbing etwa vor Gericht ganz schwer nachweisbar ist.“

Andrea redet ruhig und sachlich. Sie spricht darüber, wie das Mobbing mit der Zeit immer schlimmer und wie sie mit der Zeit immer anfälliger wurde. „Papiere gingen an mir vorbei, Personalentscheidungen wurden ohne mich getroffen, ich wurde unangekündigt aus Sitzungen ausgeschlossen und fortan in keine Planungen mehr einbezogen, obwohl ich ja eigentlich die Leiterin war“, sagt sie.

Antrag zur Versetzung und Mediation wurden abgelehnt

Die Situation verschärfte sich – auch nachdem sie sich mehre Auszeiten genommen hatte. „Bei der Arbeit merkte ich immer mehr, dass es eine Spaltung gab: für mich und gegen mich. Es hat mich immer mehr belastet, bis ich nicht mehr konnte“, sagt Andrea. Sie wandte sich an ihre Vorgesetzten und wurde aufgefordert, einen prüffähigen Bericht über Mobbing und Bossing zu schreiben, der aber nichts verbesserte. Ihr Antrag auf Versetzung wurde abgelehnt – genauso wie ihr Vorschlag einer Mediation. Sie bezahlte privat ein Coaching, hat sich selbst immer wieder hinterfragt: „Ich habe mich immer wieder überprüft, ob ich nicht diejenige bin, die sich total verrannt hat.“ Andreas größtes Problem: Alle Versuche, ihre immer schwierigere Situation konstruktiv zu lösen, führten ins Nichts.

Das Abendblatt fragte bei der Behörde für Kultur und Medien nach, ob es ein standardisiertes Verfahren für Mobbing-Fälle gebe. „Die Behörde für Kultur und Medien ist eine vergleichsweise überschaubare Behörde und freut sich, dass die Beschäftigten hier weit überwiegend sehr lange sehr gerne arbeiten“, heißt es in der Stellungnahme. In den vergangenen 13 Jahren hätte es nur einen Konfliktfall gegeben. Allerdings: Dem Abendblatt sind neben Andrea in ihrem direkten Arbeitsumfeld sogar noch zwei weitere Fälle bekannt, die sich langfristig haben krankschreiben lassen. Doch was, wenn diese – möglicherweise aus Sorge – die eigenen Fälle gar nicht als Mobbing deklarierten?

Kulturbehörde hat seit 2012 eine Dienstvereinbarung zum Thema Mobbing

„Um den Beschäftigten Verfahrenssicherheit zu geben, haben Behördenleitung und Personalrat 2012 eine eigene Dienstvereinbarung zum Umgang mit Mobbingfällen vereinbart, die den Beschäftigten jährlich neu zur Kenntnis gegeben wird, sodass alle wissen, wie sie im Konfliktfall Hilfe bekommen können“, heißt es weiter in der Behördenantwort. Auch dem Abendblatt-Wunsch, die interne „Dienstvereinbarung zu Mobbing und Bossing“ zukommen zu lassen, wird entsprochen. Unter §2 („Beschwerde und Beratungsrecht“) steht in dem vierseitigen DIN-A4-Papier, dass man „sich bei den unmittelbaren oder nächst höheren Vorgesetzten“ beschweren“ solle. Doch genau das hat Andrea gemacht – nur leider ohne die erhoffte Verbesserung ihrer Situation.

In der Theorie gibt es aber auch in diesem Fall eine ganze Reihe von Ansprechpartnern, die ebenfalls helfen könnten oder sollten. Die Personalvertretung, Schwerbehindertenvertretung, Frauenbeauftragte oder die Beratungsstelle des Psychologischen Dienstes. So steht es in der Vereinbarung. Und selbst die Gewerkschaften bieten sich als Vermittler an. „Wir raten Betroffenen von Mobbing sich so schnell wie möglich Unterstützung zu holen – bei Gleichstellungsbeauftragten, Betriebs- und Personalräten oder direkt bei ihrer Gewerkschaft. Dort können sie Hilfe erhalten und das weitere Vorgehen planen“, sagt Tanja Chawla, die Hamburg-Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Auch Innenbehörde hat eine eigene Mobbing-Dienstvereinbarung

Doch genau bei nahezu allen dieser Anlaufstellen (und noch einigen mehr) hat sich auch Birte gemeldet. Denn auch die Innenbehörde hat eine schriftliche Dienstvereinbarung, die Mobbingfälle ähnlich wie die Behörde für Kultur und Medien regelt. Zumindest in der Theorie. Die Antwort in der Praxis war dagegen fast immer die gleiche: „Großes Bedauern“ und „nicht zuständig“.

„Meine Bitten um Hilfe durch alle Instanzen wurden nicht gehört“, sagt Birte. Wie die leitende Polizeibeamtin Carmen bittet auch sie um Telefongespräche über eine sichere Kommunikationsapp. Auch sie hat ein Mobbing-Protokoll geschrieben (liegt dem Abendblatt vor), auch sie hat zahlreiche Stellen in zahlreichen Behörden kontaktiert, und auch sie wurde immer wieder vertröstet. Einmal lautete die Antwort: Mobbing sei ein Arbeitsunfall – und dafür sei man leider nicht zuständig.

Vorwurf vieler Opfer: Strukturen in Behörden führen zu Mobbing

Sebastian Hartmann kennt das. 40,52 Prozent der Mobbing-Opfer seiner deutschlandweiten Studie gaben an, dass vor allem fehlerhafte Organisationsstrukturen zum Mobbing führten. 81,8 Prozent aller Mobbing-Täter gaben sogar an, deswegen auch gar keine (dienst)rechtlichen Konsequenzen zu befürchten. „Die Umfrage hat auch ergeben, dass sich besonders die Opfer deutlichere Verbote, mehr Prävention und Erleichterungen bei der Beweisführung wünschen, auch wenn diese Maßnahmen Mobbing nicht immer verhindern können“, sagt er.

Ein grundsätzliches Problem: „Es gibt in Deutschland leider keine spezifischen Mobbing-Paragrafen, die das Thema klarer umreißen. Das ist in anderen Ländern wie in Österreich zum Beispiel anders, auch für EU-Beamte gibt es ausdrückliche Anti-Mobbing-Regelungen“, sagt Hartmann. Seiner Meinung nach handelt es sich aber nicht um ein juristisches Problem, sondern um ein politisches. „Dabei wäre es gerade im öffentlichen Dienst und in Behörden meiner Meinung nach einfach, klare juristische Regelungen durchzusetzen. Nur vereinzelnd wurden Regelungen getroffen – zum Beispiel bei der Stadt Friedrichshafen.“

Gewerkschaften fordern, Mobbing-Opfern zuzuhören

Grundsätzlichen Handlungsbedarf in Sachen Mobbing bei Behörden sehen auch die Gewerkschaften. Tanja Chawla, Hamburgs DGB-Vorsitzende, fordert, dass „Beschäftigten, die über Mobbing klagen, zugehört wird und Maßnahmen ergriffen werden, um sie zu schützen.“ Es bestehe Einvernehmen darüber, „dass es die Sicherheit und Gesundheit der Angehörigen des öffentlichen Dienstes der Freien und Hansestand Hamburg zu schützen gilt.“

Doch Carmen, die eine lange und erfolgreiche Karriere bei der Polizei hat, fühlte sich lange Zeit alles andere als gesund. Am Wohnzimmertisch spricht sie detailliert darüber, wie ihr vor allem das sogenannte Straining zu schaffen machte. Übersetzt: Betroffene werden bewusst psychischem Druck ausgesetzt, sodass er oder sie regelrecht mürbe werden. Eine Taktik, die gerade bei der Polizei, wo es ähnlich wie bei der Feuerwehr sehr hierarchisch zugehe und man auch ganz bewusst einen gewissen Korpsgeist einfordere, laut Carmen angewandt werde.

Polizei will ganzheitliches Konfliktmanagement weiter ausbauen

Auf Abendblatt-Nachfrage verweist Polizei-Sprecherin Sandra Levgrün auf einen internen Leitfaden, der bereits 2009 erstellt wurde. „Sofern weder die Konfliktparteien selbst noch die direkten unbeteiligten Vorgesetzten in der Lage sind, den Konflikt zu klären, sieht das Verfahren vor, dass Hilfe in Anspruch zu nehmen ist. Die Betroffenen oder Vorgesetzten wenden sich in diesen Fällen an den Polizeipsychologischen Dienst“, sagt Levgrün. Zudem werde derzeit im Rahmen der Strategie des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) der Polizei Hamburg ein ganzheitliches Konfliktmanagement aufgebaut.

Das weiß natürlich auch Carmen, die trotzdem skeptisch bleibt. Ihr größter Kritikpunkt: Das Beschwerdemanagement der Polizei sei anders als das Dezernat Interne Ermittlungen (DIE) nicht unabhängig, sondern dem Polizeipräsidenten unterstellt. Und der in Kürze in Rente gehende Präsident Ralf Martin Meyer sei in ihrem Fall nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Immerhin: Mit Nachfolger Falk Schnabel würde – wie in anderen Bundesländern üblich – demnächst ein Präsident an der Spitze der Polizei kommen, der nicht aus dem eigenen Laden rekrutiert wurde. Carmens Hoffnung, die sie ganz am Ende des Gesprächs am Wohnzimmertisch äußert: Das könnte ein Neuanfang werden. Nicht mehr für sie selbst, aber für die Polizei.

Mobbing: Eine Lösung für die Opfer findet sich oft nur schwer

Als auch Andrea nach einer guten Stunde das Altonaer Café verlässt, ist sie kaputt – und erleichtert. Manchmal tue es gut, einfach nur mal über alles zu reden, sagt sie. Auch wenn es sie noch immer anstrengt, schafft sie es mittlerweile, sehr konzentriert zu beschreiben, wie bei ihr das Mobbing und all die Begleiterscheinungen angefangen haben. Nur eines kann sie nach all den Jahren, Gesprächen, Mails, Protokollen und Angeboten noch immer nicht sagen: Wie das Mobbing aufhört.

*Namen wurden von der Reaktion geändert