Hamburg. Im Abendblatt-Interview kündigt der Schulsenator Projekt zur frühkindlichen Bildung an und nennt Kernprobleme des Lehrermangels.
Seit mehr als zwölf Jahren arbeitet Schulsenator Ties Rabe (SPD) in der 16. Etage der Schulbehörde an der Hamburger Straße. In seinem Büro empfing der dienstälteste Bildungsminister Deutschlands auch das Abendblatt zum Interview über die großen Herausforderungen der Bildungspolitik – den Lehrermangel sowie die hohe Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards nicht erreichen.
Hamburger Abendblatt: Herr Rabe, Sie haben vor Kurzem 443 neue Referendare begrüßt. Ein Rekord: Pro Jahr wechseln jetzt 870 Junglehrer in den Schuldienst, der Bedarf liegt bei 900. Auf den ersten Blick ganz in Ordnung – trotz des stärker werdenden Lehrermangels. Tatsache ist aber, dass fast die Hälfte der Referendare ihr Studium nicht in Hamburg abgeschlossen hat. Wie lange kann das gut gehen?
Ties Rabe: Der Lehrermangel hat mehrere Ursachen. Die wichtigste ist, dass die Babyboomer in den Ruhestand gehen und die nachrückende Generation zahlenmäßig wesentlich kleiner ist. Da fehlen über 20 Prozent, das ist das Kernproblem. Aber es gibt auch ein paar hausgemachte Probleme. Nur sehr wenige junge Menschen schließen erfolgreich ein Lehramtsstudium ab, sehr viele Studierende brechen ihr Studium ab. Das gilt für viele Bundesländer, auch für Hamburg. Hier schaffen pro Jahr rund 550 Studierende einen Masterabschluss für das Lehramt, aber wir brauchen jedes Jahr 900. Deswegen arbeiten wir an zahlreichen Verbesserungen.
Wie lange kann das noch gut gehen?
Rabe: Im Vergleich zu anderen Bundesländern stehen wir noch relativ gut da, aber alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prognostizieren eine zehn bis 15 Jahre dauernde Durststrecke. Ich rechne damit, dass wir in den nächsten drei, vier, fünf Jahren vor ähnlichen Problemen stehen, vor denen jetzt einzelne Bundesländer bereits stehen.
Wo wird zuerst eine Lücke entstehen?
Rabe: Lücken erwarten wir zunächst im Grundschul- und Sonderschulbereich. Und bereits jetzt gibt es Probleme an einigen Berufsschulen. Wenn künftig alle Bereiche des Arbeitslebens um immer weniger Fachkräfte konkurrieren, dann hat die Industrie manchmal bessere Karten als die Schulbehörde.
Laut einer Untersuchung des Stifterverbandes bricht etwa die Hälfte der Lehramtsstudierenden das Studium ab. Welche Gründe sehen Sie dafür?
Rabe: Ich tue mich schwer, das genau zu benennen. Ich bin Schulsenator und kein Wissenschaftssenator. Wir wollen das zusammen mit Universität und Wissenschaftsbehörde genauer erörtern. Die Verhältnisse in Hamburg sind kaum anders als in den anderen Bundesländern. Wir sehen, dass es bei bestimmten Lehramtsstudiengängen eine bessere Abschlussquote gibt, zum Beispiel bei den Lehrkräften für Sonderpädagogik. Aber ich möchte über die Gründe nicht spekulieren.
Nur ein gutes Viertel der Referendare ist männlich. Warum wollen so wenig Männer Lehrer werden?
Rabe: Das ist es eine traurige Entwicklung, denn Schülerinnen und Schüler brauchen in der Schule ganzheitliche Orientierung. Lehrkräfte sind nicht nur Unterrichtende, sie sind auch Menschen, die Erziehungsprozesse gestalten, sie sind Vertrauenspersonen, und da ist es schon wichtig, dass beide Geschlechter vertreten sind. Die Ursache ist aus meiner Sicht klar: Es liegt an den Rollenverständnissen junger Menschen. Ich habe den Eindruck, dass sich bestimmte Rollenklischees verfestigen, nach denen Erziehung, Kinder, Nachwuchs und Familie überwiegend als weibliche Aufgaben verstanden werden. Das finde ich furchtbar, aber es ist die naheliegendste Erklärung.
Sie haben auf die Pensionierung der vielen Babyboomer unter den Lehrern hingewiesen. Der Lehrermangel ist somit auch ein Generationenproblem. Haben Sie überhaupt eine Chance gegen diesen Trend?
Rabe: Gerade beim Lehrerberuf ist das sehr, sehr schwer. Die Krise ist vor 30 Jahren in den deutschen (Ehe-)Betten entstanden, da war wohl zu wenig los, und deshalb gibt es heute zu wenig junge Menschen. Zudem wachsen die Schülerzahlen zurzeit dramatisch. Ohne die großen Fluchtbewegungen würden wir noch ein paar Jahre mit den Lehrern auskommen. Das heißt aber nicht, dass ich gegen die Aufnahme der Kinder aus aller Welt bin. Wir brauchen sie langfristig und sollten uns freuen, dass sie so viel Zukunftshoffnung in unsere schöne Stadt setzen. Aber das hat die Situation noch einmal verschärft. Zudem haben wir eine ungewöhnlich gute Lehrerausstattung. In den 60er-/70er-Jahren hatten wir schon einmal so viele Schüler wie jetzt, aber damals gab es sehr große Klassen, und wir sind mit 60 Prozent der heutigen Lehrerzahl ausgekommen. Das will ich mir nicht wieder herbeiwünschen, aber umgekehrt auch ein bisschen die Angst davor nehmen, dass jetzt der Weltuntergang an die Tür klopft.
Ist das die indirekte Ankündigung, eventuell doch die Klassen zu vergrößern?
Rabe: Nein. Wir haben gesagt, wir wollen die kleinen Klassen beibehalten, und Sie sehen an unseren enormen Anstrengungen wie der Einstellung der Lehrer, der Erhöhung der Zahl der Referendare und der Erhöhung der Gehälter für Grundschullehrkräfte, dass wir alles tun, um sicherzustellen, dass die Klassen klein bleiben.
Eine zweite große Baustelle der Bildungspolitik sind die gestiegenen Anteile der Kinder, die am Ende der Grundschule nicht die Mindeststandards erreichen, in Hamburg rund 20 Prozent.
Rabe: Das kommt auf den Bereich an, beim Lesen sind es 20 Prozent.
Ähnlich hoch ist aber auch der Anteil der Kinder, die schon bei der Einschulung gravierende Defizite haben, also eigentlich nicht schulreif sind. Woran liegt das?
Rabe: In ganz Deutschland und auch in Hamburg hat sich die Schülerschaft deutlich verändert. Immer mehr Kinder kommen aus Familien, in denen die Eltern bei der Bildung wenig helfen können, es in der Schule selbst nicht leicht hatten oder die deutsche Sprache nicht sicher beherrschen. Alle Bildungswissenschaftler sagen, je erfolgreicher die Eltern in der Schule waren, desto wahrscheinlicher ist es, dass auch die Kinder in der Schule erfolgreich sind. Aber seit Jahren nimmt die Zahl der Kinder zu, die aus Familien kommen, in denen die Eltern selbst in der Schule nicht so erfolgreich waren.
Welche Rolle spielt die Sprache?
Rabe: Eine entscheidende. In Hamburg sprechen 30 Prozent der Kinder zu Hause nicht deutsch, und das sind andere Ausgangsvoraussetzungen als vor 20 oder 30 Jahren. Ob Schweden, England, Finnland, oder Norwegen: Überall sind die Schüler in den Kernkompetenzen deutlich abgesackt, weil sich die Schülerschaft geändert hat. Das darf keine Entschuldigung sein. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Kinder gut lesen, schreiben und rechnen können.
Wie hoch ist der Anteil derer, bei denen bei der Viereinhalbjährigen-Untersuchung so gravierende Defizite festgestellt werden, dass bis zur Einschulung Fördermaßnahmen erforderlich sind?
Rabe: Das sind rund 20 Prozent.
Und am Ende der Grundschulzeit erreichen immer noch 20 Prozent nicht die Mindeststandards. Wie steuern sie dagegen an?
Rabe: Kinder aus bildungsnahen Familien hören und üben in den ersten Lebensjahren zehnmal so viele Wörter wie Kinder aus bildungsfernen Familien. Deshalb haben wir die Bildungspläne der Vorschule überarbeitet und erstmals sehr genau festgelegt, was und wie gelernt wird. Dabei haben wir sehr viel Wert auf Vorlesen, Mit-einandersprechen und Zuhören sowie auf mathematische Grundbildung wie etwa Würfelaugen zählen und Mengen abschätzen gelegt. Wir haben alle über 600 Vorschullehrkräfte zur Schulung eingeladen, und die haben begeistert mitgemacht.
Ist das auch für die Kitas vorstellbar?
Rabe: Bildung und Förderung vor der ersten Klasse muss nicht zwingend in der Schule stattfinden. Zwingend ist allerdings eine hohe Qualität der Förderung. Die müssen wir gewährleisten. An den Hamburger Vorschulen arbeiten studierte Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, wie sie auch in manchen Kitas angestellt sind, sodass ich mir schon vorstellen kann, dass frühkindliche Bildung auch an Kitas erfolgreich sein kann. Entscheidend ist, dass es eine gezielte Förderung im sprachlichen und mathematischen Bereich gibt und nicht nur eine Fortschreibung der normalen Kindertagesbetreuung.
Empfinden bildungsorientierte Eltern die Konzentration auf die Basiskompetenzen als zu wenig anspruchsvoll für ihre Kinder ?
Rabe: Es gibt in der Tat Interessenskonflikte in Bildungsfragen. Viele Bildungspolitiker, Verbände, bildungsnahe Elternhäuser und auch viele Lehrkräfte fordern neue Unterrichtsinhalte, zum Beispiel kulturelle und religiöse Orientierung, soziale Kompetenzen, Verkehrserziehung, Sexualerziehung und vieles mehr. Deshalb kommen die Basiskompetenzen wie Lesen und Rechnen immer öfter zu kurz. Eltern, die ihre Kinder gut fördern, haben meist andere Wünsche. Die Eltern, deren Kinder schlecht lesen, schreiben und rechnen können, sind in der Politik weniger einflussreich. Aber gerade sie brauchen eine starke Interessenvertretung. Kein Land kann 20, 25 oder 30 Prozent Bildungsversager auf Dauer aushalten.
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Was halten Sie von Bildungshäusern, in denen Kita und Schule kooperieren?
Rabe: Ich finde die Idee sehr gut, deshalb machen wir das auch in Hamburg. Wir suchen 50 Grundschulen, auf deren Gelände jetzt eine Kita gebaut werden soll. Davon erhoffen wir uns eine engere Verzahnung und Zusammenarbeit. Wir hatten gedacht, wir brauchen jahrelang, um Schulen zu überzeugen, von ihrem Schulgrundstück etwas abzugeben. Aber der Zuspruch ist sehr groß. Die ersten Kitas auf dem Schulgelände stehen bereits. Die gute Zusammenarbeit zeigt sich auch im Ganztag. In zwei Drittel aller Grundschulen gestaltet ein Träger aus dem Kita-Bereich nachmittags an der Schule das Ganztagsangebot. Man merkt plötzlich, dass unter dem Dach der Schule die beiden Partner zusammenwachsen und sich gegenseitig befruchten. Insofern ist das eine gute Entwicklung.
Sollen auch Grundschullehrerinnen und Erzieherinnen aus der Kita eng zusammenarbeiten?
Rabe: Ich will das unbedingt. Es ist nur rechtlich sehr schwierig. Es gibt das sogenannte Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, das eigentlich vor Leiharbeit schützen soll. Das greift aber absurderweise gerade hier. Wir gehen jetzt aber einen Hamburger Weg: Wir wollen, dass die Erzieherinnen und Erzieher des Kita-Trägers, der am Nachmittag in der Schule das Betreuungsangebot macht, auch vormittags im Schulbetrieb eingebunden werden können. In wenigen Wochen wird die Bürgerschaft dazu einen Antrag auf Änderung des Schulgesetzes beschließen, der uns diese Möglichkeiten stärker eröffnet.
In eineinhalb Jahren wird die neue Bürgerschaft gewählt. Wollen Sie weitermachen?
Rabe: Das entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Und dann entscheidet das der Bürgermeister. Ich arbeite in meinem Amt mit großer Freude, und in meiner Amtszeit hat sich Hamburg in allen wissenschaftlichen Studien im bundesweiten Vergleich erheblich verbessert. Statt Platz 14 von 16 Bundesländern belegen wir jetzt im Schnitt Platz 6. Wir haben viel geschafft, aber es ist auch noch viel zu tun.