Hamburg. Vorbereitungsklassen für Geflüchtete und Rentenwelle: Ein pensionierter Rückkehrer erzählt aus dem Innenleben der Schulen.

Als Mathias Morgenroth-Marwedel und Felicia Brussock über ihre gemeinsamen Jahre im Kollegium nachdenken, fallen die beiden sich plötzlich in die Arme und fangen an zu lachen. „Ich war ein Jahr eher hier als du“, sagt die 67-Jährige, die für einen Moment die Farbrolle weglegt, mit der sie eben noch die bunt besprenkelten Tischplatten mit einem hellen Grauton überstrichen hat.

„Neues Schuljahr, neues Glück“, sagt Brussock und schaut dabei am letzten Schultag zufrieden auf die vielen selbst getöpferten Blumenvasen, bemalten Leinwände und frisch gestrichenen Tischplatten in ihrem „zweiten Zuhause“, wie sie es selbst nennt: der Kunsttrakt der Stadtteilschule Blankenese.

Dass sich Morgenroth und Brussock kennengelernt haben, ist nun 31 Jahre her. 31 Jahre, in denen die beiden Lehrer viel erlebt haben, aber nie müde geworden sind, junge Menschen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden zu unterstützen – ganz gleich, wie anstrengend es auch gewesen ist. Anders ließe es sich wohl auch kaum erklären, dass die beiden jetzt noch, knapp zwei Jahre nach ihrem eigentlichen Eintritt in den Ruhestand und nicht weit von der 70 entfernt, immer noch am Lehrerpult stehen.

Unterricht statt Pension: So gehen Hamburgs Schulen gegen Lehrermangel vor

Während andere Menschen in diesem Alter die Welt bereisen und ihr Rentnerdasein genießen, ist es für Morgenroth „total klar“ gewesen, weiterzumachen. Doch nicht etwa, weil der 67-Jährige als pensionierter Lehrer Langeweile hatte oder das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Im Gegenteil: Mit seinen fünf Enkeln, seinem Ehrenamt und Hobby, dem Fußballspielen, sei der ehemalige Schulleiter der Stadtteilschule Blankenese auch so gut ausgelastet. Nein, vielmehr, weil Morgenroth gewusst habe, vor welchem Problem Hamburgs Schulen gerade stehen.

Denn wie mehrfach berichtet, waren es bereits 268 offene Stellen, mit denen die Schulen in das vergangene Schuljahr gestartet waren. Und das ist erst der Anfang: Wegen der Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge der Lehrerinnen und Lehrer und des ungebrochenen Schülerwachstums benötigt Hamburg in den kommenden Jahren pro Jahr rund 900 Lehrkräfte mehr.

Hamburger Lehrer: Nach einem Jahr zurück aus der Pension

Ein Bedarf, der aktuell nicht bedient werden kann und der ohne Menschen wie Morgenroth und Brussock wohl zu vielen weiteren Fehlstunden führen würde. Zwar haben die Schul- und Wissenschaftsbehörde nun Maßnahmen ergriffen, wie etwa einen Quereinstiegsmaster einzuführen oder mehr Studienplätze anzubieten. Doch auch das dürfte den aktuellen Engpass aufgrund der dafür benötigten Zeit nur bedingt mildern. Allein in den kommenden fünf Jahren werden laut Prognose der Schulbehörde rund 1700 Lehrer altersbedingt in Rente gehen.

Weil Morgenroth bei Eintritt in seinen Ruhestand um den akuten Mangel wusste, hat er seinem Nachfolger zwar angeboten zurückzukehren, „falls etwas sein sollte“. Dass der Anruf aber nicht einmal ein Jahr nach seinem großen Abschiedsfest an der Schule kam, sei dann doch überraschend gewesen, sagt Morgenroth.

Erst in Pension und dann mit 67 Jahren wieder zurück an die Schule: der ehemalige Schulleiter der Stadtteilschule Blankenese, Mathias Morgenroth-Marwedel
Erst in Pension und dann mit 67 Jahren wieder zurück an die Schule: der ehemalige Schulleiter der Stadtteilschule Blankenese, Mathias Morgenroth-Marwedel © Roland Magunia

„Für mich war aber sofort klar: Jetzt geht‘s wieder los.“ Denn dass das Personalproblem zulasten der Schülerinnen und Schüler geht, das habe der Deutschlehrer aus Leidenschaft nicht zulassen können. „Ich habe mich mein ganzes Leben dafür eingesetzt, dass junge Menschen in ihrer Schulzeit das an die Hand gegeben bekommen, was sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen.“ Dass dies durch eine verfehlte Personalpolitik gefährdet werde, habe er deshalb nicht akzeptieren wollen.

Während Morgenroth während seiner Zeit als Schulleiter unzählige Bewerbungen gesichtet habe und noch nicht einmal alle Kandidaten zum Bewerbungsgespräch habe einladen können, sei die Lage heute „wirklich problematisch“, sagt Philip Reuter, jetziger Schulleiter der Stadtteilschule Blankenese. „Auf unsere letzten Ausschreibungen gab es nicht eine einzige Bewerbung.“ Dass Morgenroth sich auf seinen Anruf im vergangenen April hin bereit erklärt hat, acht Stunden pro Woche eine internationale Vorbereitungsklasse, kurz IVK, mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern im Alter von elf bis 14 Jahren zu unterrichten, sei da „enorm hilfreich“ gewesen. „Keiner will mehr Vollzeit arbeiten“, sagt Reuter. Erst einen Tag zuvor habe der Schulleiter noch eine Kollegin überredet, ihre Stunden auf 100 Prozent aufzustocken.

Lehrer: Vorruhestand und Teilzeit als Problem

„Kein schönes Gefühl“, findet der 47-Jährige. Doch Reuter bleibt nichts anderes übrig: „Wir versuchen zwar bereits mit Lehramtsstudenten Stunden auszugleichen, aber das reicht nicht.“ Denn neben dem Anspruch auf Teilzeit würden zusätzlich immer mehr Kolleginnen und Kollegen in den Vorruhestand gehen wollen. Ein Zeichen, dass im Bildungssystem in den vergangenen Jahren etwas gehörig schieflief, sagt Reuter. „Das Vorurteil, Lehrer hätten einen entspannten Job und wegen der Ferien immer super viel Urlaub, stimmt schlichtweg nicht.“

Dass sich neben Morgenroth und Brussock noch drei weitere ehemalige Lehrkräfte der Stadtteilschule Blankenese dazu entschieden haben, über ihren Ruhestand hinaus zu unterrichten, sei deshalb keine Selbstverständlichkeit, sagt der Schulleiter. Doch wie die Schulbehörde mitteilt, ist Reuter mit seinem Appell an seine Kolleginnen und Kollegen offenbar nicht allein: 285 von insgesamt 28.000 aktiven Lehrkräften sind es aktuell, die in Hamburg über das Pensionsalter hinaus unterrichten.

Wie Pressesprecher Peter Albrecht dem Abendblatt mitteilt, begrüße die Schulbehörde es sehr, „wenn deutlich mehr pensionierte Lehrkräfte wieder unterrichten würden, sei es auch nur in Teilzeit“. Ob es dazu komme, lasse sich jedoch schwer einschätzen, da es jeweils sehr persönliche Gründe seien, die jemanden motivieren zu verlängern oder sogar wieder einzusteigen. „Die konkreten Lebensumstände auf der einen Seite und die schulischen Bedarfe (Fächer, Klassenstufe, Anzahl der Stunden, Verteilung auf die Wochentage) auf der anderen müssen auch zusammenpassen.“ Manchmal gingen pensionierte Lehrkräfte tatsächlich auch bewusst nicht an ihre ehemalige Schule, sondern wechselten, so Albrecht.

Rentner an Hamburger Schulen: „Kein Modell von Dauer“

Am größten, sagt Albrecht, sei der Bedarf in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften, aber auch für Musik und Kunst gebe es keine Lehrerinnen und Lehrer. Für Schulleiter Reuter sei es deshalb von „unschätzbarem Wert“, dass Brussock als Kunsterzieherin noch unterrichtet und zusätzlich Referendare ausbildet – ein Wissenstransfer, den aktuell sonst niemand leisten könne.

Doch auch wenn es für den Moment vielleicht hilfreich ist: „Das Modell, mit Rentnern zu unterrichten, kann keines von Dauer sein. Schülerinnen und Schüler brauchen junge Lehrerinnen und Lehrer“, sagt Morgenroth. Ein Hinauszögern des Ruhestands müsse daher die Ausnahme bleiben.

Schule Hamburg: Pensionierte Lehrer erhalten weniger Geld

Und das sieht das Hamburgische Beamtengesetz auch eigentlich so vor. Lediglich drei Jahre sind es, um die Beamte ihren Ruhestand hinauszögern können. Alles, was darüber hinausgeht, erfolgt über einen sogenannten Lehrauftrag und wird nicht mit den letzten Bezügen, sondern entsprechend des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder vergütet. Sprich: Die ehemaligen Lehrer erhalten weniger Geld.

Beobachtet man Morgenroth allerdings dabei, mit welcher Begeisterung und Gelassenheit er mit den noch etwas müden ukrainischen Schülerinnen und Schülern umgeht, fällt es schwer, dies als Ausnahme zu akzeptieren. Aus dem Stand improvisiert er ein Geografie-Quiz, und obwohl Morgenroth die Schülerinnen und Schüler nur acht Stunden pro Woche unterrichtet, weiß er jeden einzelnen Namen.

„Mir ist es wichtig, dass die Schüler hier etwas fürs Leben mitnehmen“, sagt Morgenroth. Vor allen Dingen aber, so Morgenroths These, sei wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler die Zeit bekommen, die sie für sich brauchen. Deshalb ertöne auch keine Schulglocke, die die Schüler aus ihrer Arbeit reißt. Auch von Druckmachen hält Morgenroth nichts.

Vielleicht ist es Morgenroths Gelassenheit, weshalb der 67-Jährige nichts sagt, als ein Mädchen zu spät zum Unterricht erscheint, es aber warmherzig begrüßt als es sich auf seinen Platz setzt. Bei den Schülern scheint Morgenroths Art jedenfalls gut anzukommen: Bei seinem Gang durchs Treppenhaus erhält er von fast allen Schülerinnen und Schülern ein freundliches „Moin“. In der Aula angekommen, bietet ihm ein Junge sogar eine Waffel mit Nutella an. Doch auch wenn Morgenroth seine Lehrtätigkeit für keine Dauerlösung hält: Für den Moment scheint es genau die richtige zu sein.