Hamburg. Vom Ersatzmann zum Rekordhalter: Der SPD-Politiker sitzt auch nach zwölf Jahren fest im Sattel. Was ihn fast das Amt gekostet hätte.

Keine Sektkorken knallten, kein Konfetti. Schulsenator Ties Rabe (SPD) beging sein zwölfjähriges Dienstjubiläum vor einigen Tagen hanseatisch-nüchtern. In der sogenannten Morgenlage im 16. Stock der Schulbehörde an der Hamburger Straße hielt Rabe bei einer Tasse Früchtetee mit seinen engsten Mitarbeitern ein wenig Rückschau, das war’s. Dabei ist eine Amtszeit von zwölf Jahren durchaus ungewöhnlich auf diesem Senatorenstuhl, der lange als Schleudersitz galt. Nur zwei Hamburger Schulsenatoren waren länger im Amt als Rabe: Heinrich Landahl in den 1950er und 1960er Jahren und Rosemarie Raab in den 1980er und 1990er Jahren, beide ebenfalls Sozialdemokraten.

Es kommt hinzu, dass der Bergedorfer mittlerweile der dienstälteste Senator ist – zeitlich auf Augenhöhe mit dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), bis 2018 Finanzsenator. Und: Bundesweit ist kein anderer Kultusminister und keine Kultusministerin länger im Amt als Rabe. Der bisweilen etwas spröde und oberlehrerhaft auftretende 62-Jährige ist zum mehrfachen Rekordhalter geworden, obwohl er zunächst gar nicht als Schulsenator vorgesehen war.

Olaf Scholz’ Ehefrau Britta Ernst Favoritin für den Senatsposten

Nach dem Erdrutschsieg der SPD bei der Bürgerschaftswahl 2011 galt die profilierte Schulpolitikerin Britta Ernst als aussichtsreichste Kandidatin für das Schulressort. Wegen des Geschlechterproporzes wollte der neue Erste Bürgermeister Olaf Scholz eine Frau an die Spitze des Schulressorts platzieren, Rabe sollte Staatsrat in der Behörde werden. Doch es gab öffentliche Kritik daran, dass Scholz mit Britta Ernst ausgerechnet seine Ehefrau in den Senat holen wollte.

Schmallippig erklärte Scholz schließlich, man werde die „ordre public“ (frz., etwa: öffentliche Ordnung) achten, soll heißen: die allgemeinen Moral- und Wertvorstellungen akzeptieren. Britta Ernst verzichtete. Als dann der frühere SPD-Landesvorsitzende und Arzt Mathias Petersen Scholz’ Angebot ausschlug, Gesundheitssenator zu werden, war ein „Männerplatz“ frei und Rabe wurde Schulsenator.

Die Behörde für Schule und Berufsbildung ist mit rund 25.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der personalintensivste Bereich der öffentlichen Verwaltung. Mit 374 Schulen, zwei Landesbetrieben (Hamburger Institut für Berufliche Bildung, Volkshochschule) und fünf Instituten wie dem Landesinstitut für Lehrerbildung ist sie eine schwer zu überblickende Mammutbehörde. Der Etat ist mit Ausgaben in Höhe von 3,4 Milliarden Euro jährlich der zweitgrößte nach dem der Sozialbehörde.

Traditionell sind Lehrerinnen und Lehrer eine selbstbewusste und gut organisierte Mitarbeitergruppe. Die große Zahl der Eltern schulpflichtiger Kinder und die Schülerinnen und Schüler selbst können ebenfalls starken öffentlichen Druck ausüben, um ihre Interessen durchzusetzen. Es gibt das Bonmot, dass man mit der Schulpolitik zwar kaum Wahlen gewinnen, aber sehr wohl verlieren kann. Die 2010 gescheiterte Primarschulreform des damaligen schwarz-grünen Senats ist dafür das wohl bekannteste Beispiel.

In Rabes Amtszeit wuchs der Lehrerstellenplan um 34 Prozent

Angesichts dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, wie Rabe es geschafft hat, sich zwölf Jahre lang auf dem Schleudersitz zu halten. Die erste Antwort lautet: mit Geld, viel Geld. In seine Amtszeit fällt ein geradezu dramatischer Aufbau der Lehrkräftezahl. Seit 2011 sind 4427 zusätzliche Lehrerstellen an allgemeinbildenden Schulen geschaffen worden. Bei 17.353 Stellen im Jahr 2022 bedeutet das einen Anstieg um 34 Prozent innerhalb von nur elf Jahren.

Zu 60 Prozent geht das Stellenplus auf die um rund 35.000 auf 195.000 gestiegene Zahl der Schülerinnen und Schüler zurück, weil der Senat darauf verzichtet hat, die Klassen einfach zu vergrößern. Diese Linie gilt übrigens weiterhin. Weitere 40 Prozent der zusätzlichen Lehrerstellen sind Folge qualitativer Verbesserungen wie der deutlich kleineren Klassen, einer erheblichen Ausweitung des Ganztagsangebots und der Doppelbesetzungen im Unterricht zum Beispiel in Klassen mit inklusiv beschulten Kindern.

Wegen des Schulfriedens waren der Opposition die Hände gebunden

Hintergrund ist der zehnjährige Hamburger Schulfrieden von 2010, der 2020 schon einmal verlängert wurde. Vor 13 Jahren vereinbarten die damals regierenden CDU und Grünen mit der Oppositionspartei SPD unter anderem die Verkleinerung der Schulklassen. Ziel war es, mit diesem 50-Millionen-Euro-Paket doch noch die Primarschulreform zu retten.

Zwar stimmte die Bürgerschaft einstimmig für die Verlängerung der Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre, aber die Bürgerinnen und Bürger kippten die Reform per Volksentscheid. Nach dem Regierungswechsel hielt die allein regierende SPD an den Maßnahmen des Schulfriedens dennoch fest, die nicht zuletzt zu einer Entlastung für Lehrerinnen und Lehrer führte.

Rabe setzte als verantwortlicher Senator diese Politik konsequent um und sorgte Haushalt für Haushalt für die Bereitstellung der erheblichen Finanzmittel. Nun ist es nicht so, dass es keine Kritik an Rabes Schulpolitik gab, aber der ganz große Proteststurm blieb aus. Und CDU und anfangs auch den Grünen als neuen Oppositionsparteien waren als Unterzeichnern des Schulfriedens gewissermaßen die Hände gebunden.

Hamburg hat sich im Länderranking auf einen guten Mittelplatz verbessert

Entscheidender zweiter Grund für Rabes Ausdauer im Amt: Die Schulen haben geliefert. Hamburg war in den Länderrankings bei Schülerleistungsvergleichen stets mit Bremen und Berlin Schlusslicht. Im Laufe der vergangenen Jahre haben sich die Hamburger Schüler nach vorn gearbeitet und belegen jetzt einen guten Mittelplatz.

Weil der Stadtstaat, jedenfalls ausweislich der Leistungstests, im Vergleich mit den anderen Ländern relativ gut durch die Corona-Pandemie gekommen ist, war bereits eine Delegation von Schulexperten aus Baden-Württemberg in Hamburg, um zu sehen, wie es geht. Noch vor ein paar Jahren wäre eine solche „Bildungsreise“ undenkbar gewesen.

Voraussetzung für den Erfolg war auch, dass Rabe die Defizite des Hamburger Schulsystems früh offen benannt hat und dagegen angegangen ist: die Rechtschreibschwäche vieler Schülerinnen und Schüler mit der Wiedereinführung von Diktaten und einem Grundwortschatz, die eklatante Mathematikschwäche mit der Erhöhung der Mathe-Wochenstunden in der Sekundarstufe I.

Das heißt im Übrigen selbstverständlich nicht, dass es keine Baustellen mehr gibt. Nach wie vor erreichen 20 Prozent der Viertklässler nicht das Mindestniveau beim Übergang in die weiterführende Schule – das ist ein bildungspolitischer Skandal. Und auch beim Thema Inklusion von Schülern mit Behinderungen läuft nicht alles rund.

Der Schulsenator setzt sich auch gegen Widerstand aus den Schulen durch

Rabe hat sich von Beginn an stark für das bundesweite Abitur mit zentralen Aufgabenteilen eingesetzt, um auch hier Vergleichbarkeit herzustellen und mit dem Eindruck aufzuräumen, in Hamburg sei die Reifeprüfung leichter als etwa in Bayern. Das geschah durchaus gegen Widerstand aus den Schulen, aber hier zeigte sich auch eine gewisse Sturheit Rabes bei der Durchsetzung seiner politischen Überzeugungen.

Dass er inzwischen einer der einflussreichsten Bildungspolitiker in Deutschland ist – unter anderem seit acht Jahren Koordinator der SPD- und grün-geführten Bildungsministerien der Länder (A-Koordinator) – spielt in Hamburg weniger eine Rolle. Rabe ist sicherlich nicht über die Maßen beliebt als Senator, das hängt auch mit seiner eher zurückhaltenden, aber gelegentlich auch streitbaren und schroffen Art zusammen.

Respektiert wird er wegen seiner fachlichen Kompetenz und seines Detailwissens, das eine bemerkenswerte Leidenschaft für Zahlen einschließt, die er gern in seine bildungspolitischen Argumentationen einbaut. Diese Neigung zu einer gewissen Objektivierung durch Daten hat ihm früh in der „Zeit“ den ursprünglich nicht anerkennend gemeinten Spottnamen „Graf Zahl“ eingebracht.

Rabe neigt manchmal zu riskanten Bildern und Vergleichen

In der Regel formuliert Rabe druckreif und präzise, aber bisweilen wählt er im Bemühen um eine plakative Sprechweise Bilder und Vergleiche, die seinen Mitarbeitern Schweißperlen auf die Stirn treiben. Ein Beispiel: In dieser Woche stellte er im Rathaus Maßnahmen des Senats gegen den Lehrermangel vor und erwähnte auch das strukturelle Defizit von 265 Stellen, das aktuell an den staatlichen Schulen besteht.

Nicht schön, aber, so Rabe, das seien nur 1,8 Prozent aller Lehrerstellen in Hamburg. Dann kam ein plastischer Vergleich. „Wenn ich mich vor Ihnen hinstelle mit meinen knapp 1,80, entspricht das ungefähr der Hacke meines Schuhs. Das ist die Zahl der Lehrerstellen, die wir jetzt nicht besetzt haben“, sagte Rabe und verwies noch auf die Vertretungsreserve von insgesamt 493 Stellen. Soll heißen: Ist schon nicht so schlimm.

Mathematisch betrachtet hat der Schulsenator zweifellos Recht. Und doch könnte sein Vergleich manchen Lehrkräften und Schulleitern als Verharmlosung ihrer Situation vorkommen. Wenn an einer kleinen Grundschule nicht alle Stellen besetzt sind und dann eine Krankheitswelle hinzukommt, stößt das System schnell an seine Grenzen. Rabe weiß das genau, aber er erwähnt es bestenfalls am Rande. Dabei ist es ein großer Vorzug für ihn, der selbst fünf Jahre als Gymnasiallehrer unterrichtet hat, dass er weiß, wie die Schulen und die dort Tätigen ticken – im Gegensatz zu manchen seiner Vorgänger.

Während der Corona-Pandemie stand der Schulsenator vor dem Rücktritt

Wie schnell die Stimmung in der emotionalen Bildungslandschaft kippen und selbst einen Routinier wie ihn in Bedrängnis bringen kann, hat Rabe Ende 2020 während der Corona-Pandemie erfahren. Der Sozialdemokrat war ein entschiedener Befürworter des Präsenzunterrichts an Schulen, und er verteidigte seine Position unter anderem mit dem Argument, Schulen seien keine Treiber der Pandemie. Zudem gebe es bei Kindern und Jugendlichen eher milde Verläufe der Erkrankung. Als dann doch ein großer Ausbruch an der Heinrich-Hertz-Schule in Winterhude (später kamen weitere hinzu) bekannt wurde, stellte sich heraus, dass Rabe diese Information zurückgehalten hatte.

Die Lage war durchaus bedrohlich, Rabe geriet ins Kreuzfeuer der medialen Berichterstattung – auch des Abendblatts. Und es wurde politisch einsam um den Schulsenator: Bürgermeister Tschentscher gehörte als Mediziner bundesweit zum „Team Vorsicht“. Auch die damalige Gesundheits- und heutige Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard (SPD) stützte den Tschentscher-Kurs. Rabe kam es plötzlich so vor, als stünde er mit dem Rücken zur Wand und sei auch im Senat ein Alleinkämpfer.

„Spiegel“ und „Zeit“ warf der SPD-Politiker „hingerotztes Gelaber“ vor

Ihm und seinen engsten Mitarbeitern im 16. Stock der Behörde war kurz vor Weihnachten klar, dass nicht mehr viel passieren durfte. Rücktrittsstimmung machte sich breit. Dass es nicht zu einer Demission Rabes kam, lag an einer gewissen Beruhigung der Lage nach den verlängerten Weihnachtsferien im neuen Jahr. Es lag aber auch nicht zuletzt daran, dass Tschentscher an seinem erfahrenen Mitstreiter festgehalten hat und Rabes Linie doch im Wesentlichen mitgetragen hat.

Wie sehr diese Erfahrung bei dem Sozialdemokraten nachwirkt, zeigt ein Vorgang aus der vergangenen Woche. Bei einem eher harmlosen Termin – dem Landesfinale des Wettbewerbs „Jugend debattiert“ – holte Rabe sehr unvermittelt zu einem verbalen Rundumschlag gegen die Medien aus. „Bei Corona wurde lange darüber diskutiert, Schulschließungen – macht das denn Sinn oder nicht. Gab es jemals jemanden, der sich darum gekümmert hat, dass es Studien gibt? Dass es Fakten gibt? Ich vermisse es, dass man sich dann meinungsfrei prüft“, sagte Rabe laut einem Mitschnitt von Teilnehmenden der Veranstaltung und nannte explizit die Berichterstattung von „Zeit“, „Spiegel“, „Süddeutscher Zeitung“ und „FAZ“ in diesem Zusammenhang. Wie um den Ganzen die Krone aufzusetzen, setzte er noch hinzu, deren Berichterstattung während der Pandemie sei „hingerotztes Gelaber“ gewesen.

Über die Neufassung der Bildungspläne wurde heftig debattiert

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der „Spiegel“ warf die Frage auf, ob sich der Senator bewusst sei, dass er mit seinen Äußerungen „rechtspopulistische Argumentationsmuster“ bedient habe. Es sind diese spontanen und emotionalen Äußerungen, die nicht recht in das Bild des kontrollierten Intellektuellen passen wollen. Gelegentlich nutzt Rabe zur Durchsetzung seiner Überzeugungen aber auch gezielt das Stilmittel der Provokation, und das zeigt dann doch auch, wie stark er sich nach den Jahren im Amt trotz des beschriebenen Corona-Rückschlags fühlt.

Beispiel Bildungspläne: Im vergangenen Jahr nutzte Rabe eine Bürgerschaftsdebatte zur Neufassung des Planwerks, um die Leistungsorientierung der Schule zu betonen. Vielen Pädagoginnen und Pädagogen ist diese Einstellung ein Gräuel. Ihnen geht es eher darum, schwächere Schüler mitzunehmen statt fortgesetzt an der Leistungsschraube zu drehen.

„Leistung mag anstrengend sein, aber sie macht glücklich“, verkündete Rabe frohgemut in der Bürgerschaft und provozierte damit nicht zuletzt den Koalitionspartner von den Grünen. Insgesamt gab es auch deutliche Kritik von den Schulleitungen und Lehrergewerkschaften, doch Rabe setzte wesentliche Punkte seines Entwurfs für die Bildungspläne durch, zeigte sich aber auch kompromissbereit.

Senat Hamburg: Anfang 2024 wird Rabe dienstältester Schulsenator sein

Sicherlich profitiert Rabe auch davon, dass es in der Hamburger Schulpolitik derzeit keine so exponierte und fordernde Widersacherin gibt, wie es anfangs etwa die heutige Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg von den Grünen oder auch später noch Karin Prien (CDU) waren, heute als schleswig-holsteinische Bildungsministerin Kollegin Rabes. Dessen unangefochtene Stellung nach zwölf Amtsjahren hängt übrigens ein wenig auch damit zusammen, dass sich in seiner Partei niemand für die Nachfolge aufdrängt.

Am 25. Oktober dieses Jahres wird Rabe Rosemarie Raab mit seiner Amtszeit überholt haben. Und am 14. Januar ist Heinrich Landahl übertroffen. Dann wäre Rabe der Schulsenator mit der längsten Amtszeit seit 1946. Der Freund der Zahlen macht sich angeblich nichts aus derlei Rechnungen und hält sich, was seine weitere politische Zukunft angeht, klug bedeckt.