Hamburg. Zwei Hamburgerinnen, zwei Schicksale: Svea sucht dringend psychologische Hilfe. Paula will Therapeutin werden, doch der Weg ist hart.
Dass sie ein hoffnungsloser Fall ist, hat Svea so oft gehört, bis sie es selbst irgendwann glaubte. Seit mehr als zwei Jahren ist sie vergeblich auf der Suche nach einem Therapieplatz. Paula Ott ist fertig studierte Psychologin und möchte Kinder- und Jugendpsychotherapeutin werden, doch die Ausbildung ist ein zähes und kostspieliges Unterfangen.
An manchen Tagen bekommt Svea nicht mit, was um sie herum passiert. Wenn die Mitte 20 Jahre alte Studentin aus der Vorlesung kommt, kann sie sich oft an nichts mehr erinnern. Wenn sie über die Straße geht, müssen Autos manchmal bremsen, weil Svea sie nicht wahrnimmt und weiterläuft.
Der Grund dafür sind die Symptome einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, es fällt ihr aber schwer zu erklären, was in solchen Momenten in ihr vorgeht. In Situationen der Überforderung spalten sich Gefühle, Erfahrungen und Wahrnehmung ab, sie fühlt sich dann wie „vernebelt“ – ein Schutzmechanismus der Psyche. Das geht so weit, dass schon mehrmals andere Passanten den Krankenwagen gerufen haben, weil sie nicht mehr ansprechbar war, erzählt Svea, die ihren echten Namen für sich behalten möchte.
Kinder- und Jugendpsychiatrie Hamburg: Mit 21 Jahren ist für Patienten Schluss
Psychische Probleme hatte Svea das erste Mal im Alter von zwölf Jahren. Damals wurde sie von den körperlichen Beschwerden und plötzlichen Ohnmachtszuständen überrascht. „Mir ging es eigentlich gut, ich wusste nicht, was auf einmal mit mir los war“, sagt sie. Erst durch die Therapie bei einem Kinder- und Jugendpsychologen kamen nach vielen Sitzungen verdrängte Bilder wieder zum Vorschein und damit auch der Grund für die Beschwerden: jahrelange traumatische Erlebnisse, unter anderem sexueller Missbrauch.
Doch mit 21 Jahren ist im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie für Patienten Schluss. Als Svea diese Altersgrenze erreichte, musste sie sich auf die Suche nach einem niedergelassenen Therapeuten begeben.
Wo sich für Svea eine Tür schließt, könnte sich für Paula (26) bald eine neue öffnen. Sie ist fertig studierte Psychologin und steht kurz vor dem Beginn ihrer dreijährigen Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin.
Paulas Antrieb: Gerade jungen Patienten kann man gut helfen
Die weitreichenden Auswirkungen der Psyche auf den Körper und auf das ganze Leben – das war für Paula einmal die Motivation für ihr Studium. Während die Erkrankungen bei Erwachsenen häufig schon chronifiziert sind, habe man im Kinder- und Jugendbereich außerdem unschätzbare Möglichkeiten, früh auf die Entwicklung der jungen Patienten einzuwirken, sagt sie.
Doch inzwischen mehren sich ihre Zweifel, ob dieser Weg der richtige war, denn er verlangt einiges ab und gibt lange Zeit wenig zurück. Die Ausbildung nach dem alten Psychotherapeutengesetz ist bei ihr in drei Abschnitte aufgeteilt: zwölf Monate in einer Klinik, sechs Monate in einer Praxis und dann eineinhalb Jahre in der Institutsambulanz. Die Praxisstellen sind schwer umkämpft.
Viele Auszubildende in Hamburg – und wenig Praxisplätze
Im Kinder- und Jugendbereich gibt es in Hamburg fünf Kliniken, die nur vereinzelt Plätze anbieten. Demgegenüber stehen sechs Institute mit 81 Auszubildenden pro Jahr, die um die wenigen Plätze ringen. Über die genauen Verhältnisse möchte keines der Institute Auskunft geben.
Teilweise bekomme man vor 2025 keinen Klinikplatz; und die Praxisstellen können die Bedingungen bestimmen, erzählt Paula. Für sie bedeutet das wenig Lohn, kein Urlaubsanspruch; und wenn sie krank ist, muss sie die Stunden nachholen, selbst wenn sie ein Attest vorlegt.
Svea wusste, dass die Suche nach einem Therapieplatz langwierig sein werde. Die Wartezeiten reichen von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten – je nach dem, wen man fragt. Dass sie nach zwei Jahren und mehr als 50 Absagen immer noch mit leeren Händen dasteht, hätte sie trotzdem nie geglaubt. Svea kontaktierte jeden Einzelnen telefonisch. Meistens geht da niemand ran oder man wird direkt abgewimmelt, erklärt sie. Bei wenigen habe sie ein Erstgespräch bekommen.
Therapeuten fühlen sich mit Sveas Krankheitsbild überfordert
Jedes dieser Gespräche kostete große Überwindung, und jedes Mal gab es einen Grund, warum man sie doch ablehnte. Die meisten fühlen sich mit dem seltenen Krankheitsbild überfordert und schicken einen wieder nach Hause, sagt Svea. Ein Therapeut meinte zu ihr: „Wenn es dir nach so viel Therapie immer noch nicht gut geht, bist du wohl ein hoffnungsloser Fall“, erinnert sie sich.
Was ist der Grund für die schlechten Aussichten auf der Suche nach einem Therapeuten?
Kernproblem sei, dass der Bedarf an ambulanter Psychotherapie nie tatsächlich ermittelt wurde, so Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV). Mit Aufbau der Versorgung im Jahr 1998 wurde das Verhältnis von Psychotherapeuten zu Einwohner ermittelt, in Hamburg waren es ein Therapeut auf 2800 Einwohner. Der durchschnittliche Istzustand damals wurde dann zum zukünftigen Sollzustand erklärt, sagt er.
Psychotherapeuten – Hamburg gilt rechnerisch als überversorgt
Weil diese Bedarfszahlen in den Jahren danach nie an die steigende Nachfrage angepasst, sondern sogar noch weiter verringert wurden, gilt Hamburg rechnerisch als überversorgt. Neue Vertragstherapeuten dürfen laut GKV-Spitzenverband, der zentralen Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland, bis auf Ausnahmen hier nicht mehr zugelassen werden – und das, obwohl Erkrankte wie Svea teils Monate auf eine Behandlung warten.
Die Krankenkassen, die mehr zahlen müssten, wenn der Bedarf ausgeweitet würde, sehen das anders. „Allein der Ausbau der Kassensitze verbessert nicht die Versorgungssituation, stattdessen müsste der Zugang erleichtert werden“, sagt Helge Dickau, Pressesprecher des GKV-Spitzenverbandes. Der GKV-Spitzenverband fordert deshalb: Der Gesetzgeber müsse die Therapeuten verpflichten, freie Plätze an die Terminservicestellen zu melden.
Experte: Fehler in der Bedarfsplanung zu suchen
Krankenkassen und Therapeuten spielen sich also gegenseitig den Ball zu. Für Jonas Schreyögg, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Universität Hamburg, ist das nicht Neues. „Das ist natürlich ein Spiel mit unterschiedlichen Interessen“, gleichwohl sei der Fehler schon bei der Bedarfsplanung zu suchen. Verantwortlich sieht er vor allem die Politik, die an seiner Stelle mehr Mut brauche, um diese Fehlverteilung, die man schon seit Jahren kritisiere, zu korrigieren.
Der aufgeforderte Gesetzgeber verweist auf Anfrage des Abendblatts wieder zurück auf die Zuständigkeit der Krankenversicherungen. Diese verfügten über eine Vielzahl an Instrumenten, um auf spezifische Versorgungsbedarfe zu reagieren, so Sabine Grüneberg, Pressesprecherin des Bundesministeriums für Gesundheit. Im Übrigen sei Zahl an Therapeuten in der vertragsärztlichen Versorgung bundesweit von 23.622 im Jahr 2011 auf 38.610 im Jahr 2022 erheblich gestiegen.
Jeder Einkauf, jeder Kinobesuch kann für Svea zu viel sein
Für Svea sind die Folgen dieses „Schwarzer Peter“-Spiels unmittelbar spürbar. Im vergangenen Jahr zog sie bei ihrem Studium die Reißleine und ist seither krankgeschrieben. Das Leben ist für sie ein einziger Reizüberfluss. Jede alltägliche Situation erfordere viel Planung und Abwägung, „schaffe ich das, oder ist das heute zu viel?“ – jeder Supermarkteinkauf, jeder Kinobesuch, die Bus- oder Bahnfahrt.
Unterstützung bekam sie in dieser Zeit von ihren Freunden und der Beratungsstelle für sexuellen Missbrauch. Auch ihrer Hausärztin konnte Svea sich anvertrauen. „In so einer Situation zählt jeder Ansprechpartner“, sagt sie.
„Psychotherapeuten in Ausbeutung“ nennen sich die Psychotherapeuten in Ausbildung oft scherzhaft. Schon damals, zu Zeiten ihres Bachelors in Osnabrück, wurde Paula klargemacht: „Wenn dein Notenschnitt nicht gut genug ist, wirst du Taxifahrerin.“ Und inzwischen hat sie keinen Zweifel mehr daran, dass ihre Ausbildung für viele eine Kostenfalle ist. Allein der Lehrgang am Institut kostet sie 20.000 Euro, dazu kommen die unbezahlten Praktika im Studium und die schlecht vergüteten Praxisstellen während der Ausbildung.
Paula kann sich Ausbildung nur leisten, weil sie im Café jobbt
Paula kann sich all das bisher leisten, weil sie nebenher in einem Café in Eppendorf arbeitet und sich von ihren Eltern Geld leiht. Außerdem wohnt sie im Studentenwohnheim zur günstigen Miete. Doch auch den Wohnheimplatz hätte sie fast verloren, da das Hamburger Studierendenwerk ihre Ausbildung zuerst nicht anerkennen wollte.
- Psychische Probleme bei Kindern- Senat redet sich heraus
- Depressionen- Wie eine „Online-Klinik“ Betroffenen hilft
- Hamburger Chefarzt- So erkennen Sie narzisstische Menschen
Durch die Reform der Ausbildung im Jahr 2020 sollte sich daran einiges ändern: ein neues Ausbildungssystem, das schneller zur Approbation führt, und eine Mindestvergütung von monatlich 1000 Euro bei Vollzeit in der Praxisphase. Doch die Reform gilt nicht für die alte Generation, zu der Paula gehört, und die Mindestvergütung gibt es oft nur auf dem Papier.
Paula verdient im zweiten Praxisteil nur 470 Euro. Bei 26 Stunden in der Woche sind das etwa 4,50 Euro pro Stunde, rechnet sie vor und betont: „Ich habe zwei Studiengänge hinter mir und werde dort als vollwertige Arbeitskraft eingesetzt.“ Damit ist sie nicht allein: Etwa ein Achtel der Auszubildenden verdienen laut DPtV-Umfrage weniger als gesetzlich vorgeschrieben – teilweise werden Praxisstellen auch vollständig gestrichen.
Kassensitz in Hamburg kostet viel Geld
Das Bundesgesundheitsministerium räumt auf Anfrage des Abendblatts ein: „Auf die Gehälter, die die Einrichtungen ihren Angestellten tatsächlich zahlen, hat der Bund keinen Einfluss.“ Laut Pressesprecherin Sabine Grüneberg habe man aber mit der Gesetzesreform die Ausbildung strukturell verändert.
Neben der Mindestvergütung würden im neuen Ausbildungsmodell, wie in der Medizin, die Gehälter allein durch die Leistungsvergütungen finanziert, die für erbrachte Versorgungsleistungen gezahlt würden. So sichere man die Weiterbildung zukünftig finanziell ab. Grüneberg sagt aber auch: „Die Bundesregierung beobachtet die aktuelle Situation und prüft mögliche bedarfsgerechte Maßnahmen im ambulanten Bereich.“
Auch nach der Ausbildung ist Paula noch lange nicht am Ende. Wenn sie später gesetzlich versicherte Patienten in einer eigenen Praxis behandeln möchte, braucht sie einen Kassensitz. Doch diese sind ebenfalls durch die Bedarfsplanung begrenzt, sodass ausscheidende Therapeuten ihre Praxen für Preise von bis zu 100.000 Euro am Markt anbieten können.
Ein weiteres Loch in der Brieftasche und eine weitere Unsicherheit auf dem Weg zur eigenen Praxis. Die nächsten Jahre in diesem System bestehen zu müssen, ohne Aussicht auf Familienplanung, macht der 26-Jährigen am meisten Sorgen.
Psychotherapie Hamburg: Svea findet endlich Hilfe
Svea bekam irgendwann den Hinweis auf das „Kostenerstattungsverfahren“. Die Krankenkassen sind verpflichtet, rechtzeitig einen Therapieplatz zur Verfügung zu stellen. Tun sie das nicht, haben Erkrankte unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Kostenerstattung einer privaten Therapie.
Auch die privaten Praxen sind an der Belastungsgrenze, doch irgendwann fand Svea eine Therapeutin, die vor ihrem Krankheitsbild nicht zurückschreckte. Sie erinnert sich noch genau an den Moment, als sie nach dem Erstgespräch aus der Praxis kam und ihre Freundin anrief. „Sie hat einen Platz und ist bereit, mich zu behandeln, es muss doch einen Haken geben, wo ist der Fehler?“, grübelte sie.
Das Erstattungsverfahren war ein weiterer Kraftakt, denn die Krankenkassen lehnen laut DPtV-Umfrage knapp die Hälfte aller Erstanträge auf Kostenerstattung ab. In vielen Fällen mit der Begründung, das Verfahren sei „nicht mehr erlaubt“ – obwohl das nicht stimmt.
Svea hatte Glück, und nach einem Widerspruch bewilligte die Kasse zunächst einzelne probatorische Sitzungen und im Anschluss eine Kurzzeittherapie von 24 Stunden. Erst als sie die den Brief der Krankenkasse in der Hand hielt, kam die Erleichterung, zu oft wurde ihre Hoffnung schon enttäuscht.
Achtmal war Svea nun schon bei ihrer Therapeutin, man müsse erst miteinander vertraut werden, das brauche viel Zeit. Außerdem lebt sie inzwischen in einer Wohngruppe für Menschen mit psychischen Erkrankungen – der Austausch dort und die fachliche Betreuung helfen ihr. Wenn alles glattgeht, möchte sie im Herbst auch wieder anfangen zu studieren. „Man muss dranbleiben, egal, wie frustrierend das ist“, sagt sie. „Einen anderen Weg gibt es leider nicht.“