Hamburg. Beim Kongress in Hamburg gewähren Überlebende Einblicke in ihre Verletzungen und Leiden. Sie sprechen auch über ihre Wünsche.
Das Taufbecken steht am Rande des Parketts in der Barclays Arena. Es hat einen Durchmesser von vielleicht vier Metern, ist fast zwei Meter hoch und jetzt abgedeckt mit einer grünen Plane. Eine Art Badetreppe führt zum Beckenrand.
Es wird noch zum Einsatz kommen beim großen Kongress der Zeugen Jehovas an diesem Wochenende in Hamburg. Es ist der erste dieser Art seit dem Ende der Corona-Pandemie – und der erste nach dem Amoklauf von Alsterdorf. Etwa 8000 Gläubige sind da. Sonnabend und Sonntag dürfte es noch voller werden. Neue Gläubige werden sich im Becken segnen lassen. Für die Taufe müssen die Zeugen Jehovas einmal ganz eintauchen.
Amoklauf Alsterdorf: So verarbeiten die Opfer der Zeugen Jehovas die Bluttat
Den überlebenden Opfern des Amoklaufes geht es ähnlich. Sie wollen eintauchen – ganz. Sich der Gemeinschaft hingeben, die zum Ziel eines Gewalttäters wurde. Im Gespräch mit dem Abendblatt schildern sechs von ihnen in der Atmosphäre, die sie wieder suchen und die auch für sie einen alten oder neuen Platz finden muss.
Was sie denken, empfinden, wie sie manchmal leiden und doch optimistisch sind. „Es dauert so lange, wie es dauert“, hat eine Therapeutin einem Opfer gesagt. Ein junger Mann, der vom Dauerfeuer des Schützen verschont blieb, sagt: „Mir geht’s gut.“ Seine Therapeutin gab ihm mit auf den Weg: Er solle den anderen in der Gruppe helfen. Das nimmt er als Auftrag.
Zeugen Jehovas: So geht es den Opfern des Amoklaufes von Alsterdorf
Einige haben Schusswunden, wurden mehrfach operiert. Einem fehlt ein Stück Lunge, eine hat Rückenschmerzen, wenn Stress naht, wenn die Erinnerung zurückkehrt. Einer kann kaum noch allein arbeiten. Die Gedanken schweifen ab und rasen. Schon einen Freund anzurufen – das hilft ihm. Einige klagen über anhaltende Schlafprobleme. „Erst morgens, wenn es hell wird, geht es.“
Jeder Satz aus dem Innenleben dieser Schicksalsgemeinschaft fällt wie eine Last auf den Boden und hallt nach. Einer rannte schon dreimal den Marathon. Er trainiert wieder. Es läuft so halbwegs. Seinen kommenden 42-Kilometer-Weg kann sein Vater nicht mehr miterleben. „Ich werde nächstes Jahr in seinen Schuhen laufen.“
Sieben Menschen starben, als das frühere Gemeindemitglied Philipp F. am 9. März in das Gottesdienst-Haus in Alsterdorf eindrang und seinen Amoklauf startete. Eine solche Tat hatte es in Hamburg noch nicht gegeben. Sie löste neben tiefer Betroffenheit eine Debatte darüber aus, ob und wie sich gewaltbereite Täter Pistolen oder gar Gewehre verschaffen können. Die Waffenbehörde, Abläufe bei der Polizei, die Innenbehörde insgesamt und ihr Senator Andy Grote (SPD) gerieten dabei ins Zentrum der Kritik.
Kongress der Zeugen Jehovas in Hamburg: Sicherheit und Rückzugsraum
Das Leid der angeschossenen Überlebenden von Alsterdorf umfasst mehr als ihre körperlichen Wunden. Beim Kongress in Hamburgs größter Halle haben sie einen Rückzugsraum, dessen genauen Ort nur wenige kennen.
Schon am Eingang der Arena gibt es Metalldetektoren. Ungewohnt für eine Glaubensgemeinschaft, die großen Wert auf Achtsamkeit legt, deren Mitglieder einst von den Nazis verfolgt wurden und die heute oft als „Sekte“ beschrieben wird. Das thematisieren die Zeugen Jehovas selbst beim Kongress.
Sie beten, sie singen und sie lauschen zu Tausenden den Erfahrungsberichten, Interviews und Videos von den Großleinwänden. Der Amokläufer Philipp F. – er heißt hier „ein nicht gesunder Mensch“, wie manche sagen. Aber nur, wenn sie gefragt werden. Der Täter ist offenbar kein Thema in der Halle.
Was sich die Überlebenden des Amoklaufes wünschen
Die Gläubigen aus der Winterhuder Gemeinde kamen gleich eine Woche nach dem Amoklauf wieder zusammen. Die, die dazu in der Lage waren. Manche zogen Videotreffen vor. Mal wollen sie gerne nach ihrer Befindlichkeit gefragt werden. Mal ist es ihnen zu viel. „Wie geht’s dir heute? Die Frage kann einen schon mal aus der Bahn werfen.“ Das Kongressmotto ist „Übt Geduld“.
Ein Moderator auf der Bühne erzählt von Paulus und wie er Erniedrigungen erfuhr. „Trotz ungerechtfertigter Vorwürfe blieb er respektvoll und ruhig. Lassen wir uns nicht provozieren Er bekannte sich zu seinem Glauben an Christus und die Auferstehung. Wir können durch unser mutiges, gläubiges Auftreten andere motivieren.“
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Der Vergleich erscheint ihnen zu groß, doch die Herausforderung für Körper und Seele der Opfer sind ähnlich. Dann sprudelt heraus, was sie sich sehnlichst wünschen: „Uns sind die Einsatzkräfte in Erinnerung geblieben, das Kriseninterventionsteam. Da haben sich Polizisten in Lebensgefahr begeben, um uns zu retten. Da waren Chirurgen im Krankenhaus, die in dieser Situation perfekte Arbeit geleistet haben. Ich lebe noch.“
Diese sechs Überlebenden haben die Hoffnung, dass auch die Polizisten, die Retter und Helfer zur Ruhe kommen nach einer Nacht, die niemand vergessen kann. „Und wir würden gerne einmal persönlich Danke sagen.“