Hamburg. Zahl seit 2020 um fast die Hälfte gesunken. CDU kritisiert: „Anwendung wäre auch nach Silvesterrandale möglich gewesen“

Das Jahr war kaum ein paar Minuten alt, da kam es in Hamburg und in einigen anderen Städten zu dramatischen Szenen. Vor allem junge Männer griffen Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr in bisher wenig bekannter Härte an, beschossen sie mit Raketen und Böllern, teilweise auch mit Flaschen. Mancherorts kam es zu regelrechten Orgien der Gewalt, Polizeiwagen wurden attackiert.

In Hausbruch zwang eine Horde Jugendlicher einen Busfahrer durch massive Angriffe mit Feuerwerkskörpern zum Anhalten, bedrohte ihn dann mit Schreckschusswaffen und blendete ihn mit Laserpointern. Die Bilanz der Nacht: drei verletzte Polizisten, drei verletzte Feuerwehrleute und fünf Festnahmen von Verdächtigen, die jedoch mangels Haftgründen rasch wieder auf freien Fuß gesetzt wurden.

Silvesterkrawalle: Immer weniger „beschleunigte“ Strafverfahren in Hamburg

Nach dem ersten Entsetzen über die Massivität der Angriffe und der „neuen Qualität“ der Gewalt forderte die Politik fast einstimmig, dass nun schnell Konsequenzen folgen müssten. Wichtig sei neben dem Fokus auf die sozialen Milieus, die eine solche Aggressivität förderten, eine zügige Bestrafung der Täter. „Ich bin entschieden dafür, dass die vom Strafrecht zur Verfügung gestellten Tatbestände jedenfalls voll ausgeschöpft werden“, sagte Innensenator Andy Grote (SPD) Anfang Januar dem Abendblatt. Wichtig sei „eine effektive Strafverfolgung“.

Doch auch mehr als drei Monate nach den Krawallen ist es in Hamburg erst in einem einzigen Fall zu einer Anklageerhebung gekommen, und zwar nach dem Jugendstrafgesetz. In zwei Fällen wurde der Erlass eines Strafbefehls beantragt, wie die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Mia Sperling-Kartens, auf Anfrage des Abendblatts mitteilte. Ein Verfahren gegen unbekannt sei eingestellt worden.

Silvesterkrawalle: Polizei leitete 24 Ermittlungsverfahren ein

Insgesamt hatte die Polizei 24 Ermittlungsverfahren eingeleitet – neun Verfahren gegen unbekannt und 15 Verfahren gegen 16 bekannte Tatverdächtige, schrieb der Senat Mitte Januar in seiner Antwort auf eine schriftliche Kleine Anfrage des justizpolitischen Sprechers der CDU-Bürgerschaftsfraktion, Richard Seelmaecker. Die Tatverdächtigen sind zwischen 16 und 37 Jahre alt. Aktuell seien 17 bei der Staatsanwaltschaft anhängige Ermittlungsverfahren bekannt, erklärte Mia Sperling-Kartens. In keinem einzigen dieser Verfahren wurde ein Antrag auf beschleunigtes Verfahren gestellt. Die Voraussetzungen für eine Verurteilung im beschleunigten Verfahren hätten nicht vorgelegen, sagte Oberstaatsanwältin Liddy Oechtering kürzlich der dpa.

Anders in Baden-Württemberg: Schon am 5. Januar – und damit nur vier Tage nach Tatbegehung – wurde vom Amtsgericht Heilbronn ein 30-Jähriger aufgrund von Vorkommnissen in der Silvesternacht zu einer längeren Haftstrafe verurteilt. Die dortige Staatsanwaltschaft hatte einen Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren gestellt. In einer Pressemitteilung des Gerichts hieß es: „Das beschleunigte Verfahren soll Tätern vor Augen führen, dass schnell und konsequent reagiert wird.“ Eine rasche Strafe, das steht dahinter, gilt als wirkungsvoller.

Aber: Das theoretisch stets hochgelobte Instrument wird in der Hamburger Justiz immer seltener eingesetzt. Die Zahl der beschleunigten Verfahren vor den Hamburger Amtsgerichten ist in den vergangenen drei Jahren deutlich zurückgegangen. Wurden im Jahr 2020 noch 207 Verfahren dieser Art durchgeführt, so waren es 2021 nur noch 148 und im vergangenen Jahr sogar nur noch 120, wie ein Gerichtssprecher mitteilte – ein Rückgang um 42 Prozent gegenüber 2020. Es wurde vonseiten der Anklagebehörde auch seltener beantragt. So hat die Staatsanwaltschaft Hamburg laut Senatsantwort im Jahr 2020 in 168 Fällen, 2021 in 99 Fällen und in den ersten drei Quartalen des Jahres 2022 in 65 Fällen Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren gestellt. Die statistische Auswertung für das 4. Quartal 2022 lag noch nicht vor.

Andere Bundesländer wenden beschleunigte Verfahren häufiger an

„Hamburg sollte dieses Instrument definitiv häufiger einsetzen“, fordert der CDU-Justizexperte Seelmaecker. Die Vorteile lägen auf der Hand: „Am wichtigsten ist, dass die Strafe wirklich auf dem Fuße folgt und dem Täter die Unrechtmäßigkeit seines Handelns unmittelbar deutlich gemacht wird.“ Das könne im Sinne der Generalprävention auch andere abschrecken. Zudem verblassten die Erinnerung von Zeugen nach mehreren Monaten; dauert ein Verfahren zu lange, kann der Angeklagte auf Strafrabatt hoffen.

Andere Bundesländer wendeten das Instrument der beschleunigten Verfahren seinen Worten zufolge häufiger für geschlossene Kriminalitätsphänomene wie etwa die Silvesterrandale an. „Das wäre auch in Hamburg möglich gewesen“, ist Seelmaecker überzeugt. Als Ursache dafür, dass es stattdessen immer seltener zum Einsatz kommt, sieht er die Überlastung der Staatsanwaltschaften: „Wenn sie besser besetzt wären, würden sie es vielleicht auch häufiger anwenden.“ Die Gerichte müssten dann allerdings auch mitziehen. Ein sachbearbeitender Staatsanwalt werde jedoch kaum geneigt sein, sich bei der Fülle der zu bearbeitenden Fälle selbst zusätzlich Druck zu machen, indem er eine Beschleunigung des Verfahrens beantrage. „Dies müsste von oben kommen, doch für die Leitung der Staatsanwaltschaften und die Justizbehörde hat dieses keine Priorität“, glaubt Seelmaecker. „Dabei könnte der Rechtsstaat hier ein Zeichen setzen.“

Beschleunigte Verfahren: In Hamburg eher selten

Beschleunigte Strafverfahren beantragt die Staatsanwaltschaft nach Angaben einer Sprecherin vor allem dann, wenn der Beschuldigte geständig ist und auf frischer Tat erwischt wurde, der Fall also klar ist und keine aufwendige Beweisaufnahme gemacht werden muss. Laut Strafprozessordnung darf nur gegen erwachsene Tatverdächtige ab 18 Jahren auf diesem Wege verhandelt werden. Die Höchststrafe beträgt dabei ein Jahr Gefängnis.

Wird jemand auf frischer Tat festgenommen, kann ein Amtsrichter ihn für maximal eine Woche in sogenannte Hauptverhandlungshaft nehmen, um ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen. Das kommt in Hamburg allerdings sehr selten vor, wie aus der Senatsantwort auf eine Anfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Seelmaecker hervorgeht.