Hamburg. Streit um Arzt-Honorare, Termine in Hamburg teils erst 2024. Warum das Aufschieben einer HNO-OP für Kinder so gefährlich ist.

Die dreijährige Pauline fragte: „Was hast du gesagt?“ Was Mama und Papa sagten, kam immer öfter nicht bei ihr an. Ihr „Was?“ wurde chronisch. Pauline hatte einen Paukenerguss im Mittelohr. Ein kleiner Eingriff, eine Routine-Operation eines HNO-Arztes, hätte ihr Dauer-„Was?“ beendet. Doch es gab kein Paukenröhrchen für Pauline. Weil die Honorare für solche OPs abgesenkt wurden, es immer weniger Ärzte gibt, die Mandeln und Polypen bei Kinder operieren, ist die Warteliste auf Termine kilometerlang geworden. Bei den Krankenhäusern dasselbe: Die Zahl der Kliniken, die betroffene Kinder operieren, sinkt und sinkt. Jeder Eingriff ist ein Verlustgeschäft.

Allein in Hamburg, der Medizin-Metropole, ist nach Angaben des Berufsverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte die Zahl der Eingriffe von vor Corona (Anfang 2019) bis Anfang 2022 um mehr als 75 Prozent zurückgegangen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Zahl der Ärzte für diese OPs von 50 auf 20 gesunken ist. Ein bis dato in St. Georg betriebenes OP-Zentrum gibt es nicht mehr. Der Verband spricht von „Versorgungsnotstand in der HNO-Kinderchirurgie“. Pauline hat in Hamburg viele Leidensgenossinnen. In anderen Bundesländern ist das Bild ähnlich.

Ärzte in Hamburg: Kinder warten monatelang auf HNO-Operationen

Der Verbandspräsident Prof. Jan Löhler sagte dem Abendblatt, man könne für gerade einmal 100 Euro Honorar nicht eine halbe Stunde im OP stehen, diesen OP-Saal finanzieren, die Assistenten und die Instrumente sowie das Drumherum organisieren. „Jede Dauerwelle kostet mehr.“ Die Protestaktionen der HNO-Ärzte sei nicht erst mit der Honorarkürzung um wenige Euro gekommen (das Abendblatt berichtete). Die Bezahlung sei seit Jahren „desolat“. Die Ärzte haben eine Petition gestartet, an der sich Eltern beteiligen können. Knapp 60.000 Unterschriften waren bis Dienstag zusammengekommen. Immerhin gebe es in der nächsten Woche Gespräche mit dem Bundesgesundheitsministerium.

Die Situation um die Kinder ist dramatisch. Ein Paukenerguss sei inzwischen ein Risikofaktor in der gesamten kindlichen Entwicklung, so die HNO-Ärzte. Ist die Innenohrleistung beeinträchtigt, leidet nicht nur das Gehör, sondern auch die Sprach- und Sprechentwicklung. Die negativen Folgen für Kita und Schule sind absehbar. Bei vergrößerten Gaumen- und Rachenmandeln, so der HNO-Verband, komme es sogar zu Schlaf- und Atemstörungen. Je schlechter die Mittelohren „belüftet“ seien, desto größer das Risiko für Entzündungen. Und Entzündungen bedeuten wieder: Medikamente, Antibiotika, die passgenau kaum verfügbar sind. Ein Teufelskreis.

Schlafapnoe: Atempausen, zu wenig Sauerstoff im Blut

Das sieht Kinderärztin Dr. Claudia Haupt in ihrer Praxis regelmäßig. Binnen drei Monaten müsse operiert werden. Eigentlich. Sechs Monate Wartezeit seien aktuell schon gut, manche Familien sagen ihr, sie hätten Termine im Frühjahr 2024. Es könne in seltenen Fällen, so die Verbandschefin der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg, zu einem Obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom kommen. Diese Atempausen führen zu geringerem Sauerstoffgehalt im Blut – mit Folgen für Organe und Hirn. Auch morgens fühlen sich betroffene Kinder wie gerädert. Haupt sagte, diese Kinder bekämen die frühest verfügbaren OP-Termine.

Vor einer „katastrophalen“ Situation für Kleinkinder warnt Kinderärztin Dr. Charlotte Schulz (Sprecherin des Verbandes). Der Zusammenhang von Hören und Sprechen sei entscheidend für die Entwicklung. „Eine Sprachentwicklungsverzögerung führt bei den betroffenen Kindern dazu, dass sie häufig auch in den folgenden Jahren Schwierigkeiten haben, Sprache anzuwenden und zu verstehen. Sie sind den gleichaltrigen Kindern in der Kommunikation unterlegen, werden nicht verstanden oder missverstanden und nicht selten dadurch zu Außenseitern.“

Krankenkassen: Für kleinere OPs weniger Geld

Schulz spricht von einem „kostbaren Zeitfenster der altersgerechten Sprachentwicklung“. Wenn es hier zu Hörminderungen komme, seien die Folgeschäden erheblich.

Und alles wegen eines bizarr anmutenden Honorarstreits? Die Krankenkassen kontern, dass die Bezahlung ambulanter Operationen zwischen den Gremien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dem Spitzenverband der Kassen und dem Bewertungsausschuss vereinbart worden sei. Für größere OPs gebe es etwas mehr Geld, für kleinere etwas weniger.

Ärzte in Hamburg: 107 Euro für eine HNO-Operation für den Mediziner

Der Kassenverband VDEK teilte dem Abendblatt mit: „So erhalten HNO-Ärztinnen und -Ärzte zum Beispiel für eine Mandelentfernung 107 Euro statt zuvor 111 Euro. Gleichzeitig wird beispielsweise eine plastische Korrektur der Nasenscheidewand jetzt mit 43 Euro mehr vergütet, 304 Euro statt bislang 261 Euro. Über alle Leistungen betrachtet wird sich damit die Vergütung für operierende HNO-Ärztinnen und -Ärzte insgesamt verbessern.“

Ärzte weisen allerdings darauf hin, dass eine Nasenscheidewandkorrektur bei Erwachsenen warten könne – der Mandel-Eingriff bei einem Kind nicht. Die Krankenkassen bitten Eltern, sich an ihre jeweilige Kasse zu wenden, um einen Termin zu bekommen. Und sie drohen Ärzten, die Eingriffe „mit Verweis auf die veränderte Vergütung“ ablehnen, dass sie gegen eine „Verletzung des Sicherstellungsauftrags“ einschreiten werden.

Aus dem Verband der HNO-Ärzte hieß es, es gebe Beispiele, bei denen Kinder privat und sogar im Ausland operiert worden seien und die deutschen Kassen die Kosten erstattet hätten. Kinderärztin Haupt appellierte an die Krankenkassen und die politisch Verantwortlichen in Hamburg, schnellstmöglich wieder ein Kinder-OP-Zentrum einzurichten. Dort müssten wie zuvor Kinderanästhesisten und Kinderkrankenschwestern arbeiten. „Und die Ärzte, die dort operieren, sollten nicht draufzahlen müssen.“