Hamburg. Maryam Blumenthal und Leon Alam führen die Partei künftig gleichberechtigt. Kerstan: „Ich bin der wahre Wirtschaftssenator dieser Stadt.“
Die Hamburger Grünen werden künftig von einer Doppelspitze geführt: Maryam Blumenthal und Leon Alam wurden am Sonnabend auf einem Landesparteitag mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen gewählt. Das Duo führt die Partei schon seit zwei Jahren, bisher allerdings als Vorsitzende und Stellvertreter. Künftig agieren sie als gleichberechtigte Landesvorsitzende.
Die entsprechende Satzungsänderung hatte die Partei Anfang des Jahres beschlossen, unter anderem, um das deutlich gewachsene Arbeitspensum besser zu verteilen. Die Grünen sind in Hamburg vor allem infolge der Klimadebatte innerhalb weniger Jahre von rund 1500 auf knapp 4400 Mitglieder angewachsen.
Grüne in Hamburg: Neue Doppelspitze erzielt sehr unterschiedliche Wahl-Ergebnisse
Blumenthal erlitt auf dem Parteitag, der bei den Grünen „Mitgliederversammlung“ heißt und allen Mitgliedern offensteht, allerdings einen herben Dämpfer: Sie erhielt nur 150 von 254 abgegebenen Stimmen, das entsprach einer Zustimmung von 58,8 Prozent. 76 Mitglieder lehnten ihre Wahl ab, 28 enthielten sich. Aus den Nachfragen zu ihrer Bewerbung und den Debatten auf der Versammlung war nicht abzulesen, worauf das schwache Ergebnis der 37-Jährigen zurückzuführen war.
Offensichtlich gibt es innerhalb der Partei einerseits eine verbreitete Unzufriedenheit aufgrund bundespolitischer Themen wie zuletzt dem Asylkompromiss, andererseits Unmut über den Umgang mit Hamburger Problemen. So fragte eine Grüne Blumenthal, warum der Landesvorstand zugestimmt habe, die Bürgerschaftsabgeordnete Miriam Block ihrer Ämter als Fachsprecherin zu entheben, nachdem sie entgegen der Fraktionslinie für einen Untersuchungsausschuss zu den NSU-Morden gestimmt hatte.
Blumenthal wurde kritisch zu der Degradierung von Miriam Block befragt
„Das war eine demokratische Entscheidung der Fraktion“, antwortete Blumenthal und appellierte, solche Entscheidungen nicht als undemokratisch hinzustellen, weil sie einem nicht passten. Sie sei zudem mit Miriam Block darüber im Gespräch, wie sie künftig wieder stärker eingebunden werden könne. Die Landesvorsitzende ist selbst gleichzeitig Bürgerschaftsabgeordnete, was nicht allen Mitgliedern gefällt und ein Grund sein könnte, warum sie ein deutlich schwächeres Ergebnis erzielte als ihr Co-Vorsitzender. Ein Antrag, Amt und Mandat wieder zu trennen, wie es bei den Grünen früher üblich war, fiel allerdings mit Pauken und Trompeten durch.
„Raus aus der Blase“ – dieses schon vor zwei Jahren formulierte Ziel bleibe weiter wichtig, sagte Blumenthal in ihrer Bewerbungsrede. „Wir Grünen müssen uns auch für Menschen einsetzen, die uns nicht automatisch abfeiern“ und die Partei „weiter mit der Stadtgesellschaft verbinden“. Bei den Bezirkswahlen 2024 gelte es, den Titel als stärkste Kraft zu verteidigen.
Leon Alam erzielte mit knapp 85 Prozent ein starkes Ergebnis
Auf Alam entfielen 224 von 264 oder 84,8 Prozent der gültigen Stimmen – was angesichts der durchaus angespannten Stimmung in der Partei in den vergangenen Monaten als starkes Ergebnis gelten durfte. 25 Mitglieder stimmten gegen seine Wahl, 15 enthielten sich. In seiner Rede, die mit deutlich mehr Applaus aufgenommen wurde als die seiner Co-Vorsitzenden, hatte der 26 Jahre alte angehende Politikwissenschaftler eingeräumt, dass er Respekt vor der Aufgabe habe, vier Wahlen in eineinhalb Jahren zu verantworten (Bezirke, Europa, Bundestag, Bürgerschaft).
„Die Messlatte hängt hoch“, so Alam. Nach seiner Wahrnehmung würden die Hamburger aber registrieren, „dass wir in den Bezirken und hamburgweit erfolgreich regieren“. Nötig sei jetzt einerseits progressive Politik, aber auch „Pragmatismus im Kampf um Platz eins in dieser Stadt“.
Partei kritisiert Asylkompromiss und lehnt Lager an EU-Außengrenzen ab
Die Grünen sind in Hamburg seit 2015 als Partnerin der SPD am Senat beteiligt. 2019 wurden sie bei den Wahlen zu den Bezirksversammlungen sogar klar stärkste Kraft, konnten das bei der Bürgerschaftswahl 2020 aber nicht bestätigen. Nach einem Kopf-an-Kopf-Wahlkampf landeten sie am Ende doch deutlich hinter der SPD, die mit Bürgermeister Peter Tschentscher an der Spitze knapp 40 Prozent der Stimmen holte, während die Grünen auf gut 24 Prozent kamen – das war allerdings eine Verdoppelung gegenüber 2015 und das beste Ergebnis ihrer Geschichte.
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Zu Beginn des Parteitags wurde mit großer Mehrheit ein Antrag beschlossen, in dem deutliche Kritik am europäischen Asylkompromiss geübt wird. „Substanzielle Verschärfungen“ des Asylrechts, etwa die Ausweitung des Konzepts sicherer Herkunftsstaaten, lehne man ebenso ab wie das Vorhaben, Menschen in Lagern an den EU-Außengrenzen unterzubringen.
Blumenthal: Ohne das Recht auf Asyl würde ich heute nicht vor euch stehen
„Niemand steigt freiwillig auf ein funktionsuntüchtiges Schlauchboot und vertraut sich Schleppern an“, sagte die Parteivorsitzende Blumenthal. Die derzeitige Lage an den europäischen Außengrenzen sei „unhaltbar und menschenunwürdig“. Ohne das Recht auf Asyl würde sie heute nicht vor ihren Parteimitgliedern stehen, so die im Iran geborene Lehrerin.
„Es braucht eine menschenrechtsbasierte Reform der europäischen Asylpolitik – oder keine“, forderte Hanna Belgardt von der Grünen Jugend, die auf die Debatte gedrängt hatte. Auch Justizsenatorin Anna Gallina kritisierte, dass mit dem EU-Kompromiss „Recht abgebaut“ werde, und versprach, dass sich die Grünen auf allen Ebenen für Verbesserungen einsetzen werden. Insbesondere die Frage nach weiteren sicheren Herkunftsstaaten dürfte noch für Diskussionen mit dem Koalitionspartner SPD sorgen, nachdem Bürgermeister Peter Tschentscher bereits seine Zustimmung zum Ausdruck gebracht hatte.
Grüne wollen auch im Bereich Wirtschaft als kompetent wahrgenommen werden
Breiten Raum nahm ferner ein Leitantrag zum Thema Wirtschaftspolitik ein. Lisa Kern, als Bürgerschaftsabgeordnete und wiedergewählte Schatzmeisterin der Partei eine der Hauptverfasserinnen, machte deutlich, dass man mit dem 27-seitigen Papier vor allem das Problem beheben wolle, dass den Grünen auf diesem Feld kaum Kompetenzen zugeschrieben würden: „Das wollen wir ändern.“
Die Wissenschaftssenatorin und Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank verwies auf die Einschätzung von Forschern, wonach der Klimawandel unsere Lebensgrundlagen zerstöre. Daher gelte: „Klimaschutz und erfolgreiches Wirtschaften bedingen einander.“ Die Zukunft werde grüner und digitaler, daher müsse man mutig in aussichtsreiche Branchen investieren. So fordert der Antrag unter anderem eine „Innovations-Milliarde“. Sie wisse aus vielen Gesprächen, dass die Hamburger Wirtschaft offen für grüne Positionen sei.
Grüne in Hamburg: Jens Kerstan: „Ich bin der wahre Wirtschaftssenator in dieser Stadt“
Umweltsenator Jens Kerstan bestätigte das mit einem pointierten Seitenhieb auf den Koalitionspartner: „Als Klima- und Energiesenator bin ich eigentlich der wahre Wirtschaftssenator in dieser Stadt“, sagte er – was Amtsinhaberin Melanie Leonhard (SPD) nicht gern hören dürfte. Kerstan belegte das so: Wann immer Unternehmen Probleme mit Energiethemen hätten, kämen sie zu ihm in die Behörde: „In der Krise saßen die alle bei uns – nicht beim Koalitionspartner.“
Beim Industrieverband Hamburg wurde die Neupositionierung der Grünen tatsächlich begrüßt: „Die Grünen und die Wirtschaft – das ist keine einfache Beziehung“, räumte der Vorstandsvorsitzende Matthias Boxberger ein. „Deshalb freue ich mich, dass die Grünen in Hamburg eine neue Nachdenklichkeit und Dialogbereitschaft in Sachen wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zeigen. Die Forderungen nach mehr städtischen Investitionen für den klimaneutralen Umbau unserer Industrie ist richtig und dringend notwendig.“