Hamburg. Maryam Blumenthal ist zur Parteivorsitzenden gewählt worden. Für den rot-grünen Senat wird es durch die Personalie nicht leichter.
Diese Wahl dürfte das Regieren für den rot-grünen Senat nicht einfacher machen: Die Hamburger Grünen haben mit Maryam Blumenthal und Leon Alam ein neues Führungsduo gewählt, das sich klar für einen eigenständigeren und kritischeren Kurs der Partei einsetzt und vor allem beim Klimaschutz auf radikalere Schritte drängen dürfte.
Die 35 Jahre alte Blumenthal, Lehrerin aus Volksdorf, viele Jahre in der Wandsbeker Bezirkspolitik aktiv und seit 2020 Bürgerschaftsabgeordnete, setzte sich auf einem digitalen Parteitag mit 322 zu 211 Stimmen gegen ihre Fraktions-kollegin Sina Demirhan (26) durch. Fünf Mitglieder enthielten sich, zwei stimmten gegen beide Kandidatinnen.
Wahl sagt auch etwas über die Kräfteverhältnisse aus
Blumenthal tritt die Nachfolge von Anna Gallina an, die das Amt seit 2015 innehat und es nach den Grünen-Statuten aufgeben muss, weil sie mittlerweile als Justizsenatorin Mitglied des Senats ist. Bei der Wahl des Stellvertreters der Landesvorsitzenden behielt der 24 Jahre alte Student Leon Alam, Landesvorsitzender der Grünen Jugend, gegen den Bürgerschaftsabgeordneten René Gögge (35) mit 295 zu 246 Stimmen (sieben Enthaltungen, drei Neinstimmen) die Oberhand.
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Die Wahl sagt auch etwas über die Kräfteverhältnisse in der binnen weniger Jahre von 1500 auf mehr als 4000 Mitglieder angewachsenen Partei aus: Demirhan und Gögge waren als das gemäßigte Team der Mitte angetreten. Sie wolle „Radikalität und Realitätssinn“ zusammenbringen, als Partei „die nächsten Schritte gehen“, gleichzeitig aber den „erfolgreichen Kurs fortführen“, sagte Demirhan, die trotz ihrer erst 26 Jahre bereits elf Jahre in der Partei aktiv und Mitglied im Landesvorstand ist. Ihre Bewerbung wurde vor allem von erfahreneren Kräften unterstützt, die sich eher wünschen, dass die Landesvorsitzende vor allem im Hintergrund den Laden zusammenhält.
Blumenthal sieht sich selbst als Realpolitikerin
Blumenthal, die sich selbst als Realpolitikerin sieht, aber gleichwohl große Unterstützung bei der vergleichsweise rebellisch-linken Grünen Jugend genießt, zeigte sich dagegen deutlich kämpferischer. „Ich bewerbe mich nicht, um diese Partei bloß zu verwalten oder zu moderieren“, sagte sie mit einem Seitenhieb auf ihre Konkurrentin. Sondern sie bewerbe sich „um das hohe politische Amt mit der klaren Idee, dass noch mehr drin ist“.
Ziel müsse es sein, bei der Bezirkswahl 2024 den Titel als stärkste Kraft zu verteidigen und 2025 „erneut realistisch um das Bürgermeisterinnen-Amt zu ringen“, so Blumenthal – diese Kampfansage dürfte man beim Koalitionspartner SPD mit Interesse vernehmen.
Blumenthal warb dafür, das soziale Profil der Partei auszubauen
Zumal die neue Grünen-Chefin auch sonst nicht mit Spitzen sparte, vor allem beim Thema Klimaschutz: Während die anderen Parteien meinten, man könne „die größte Krise unserer Zeit einfach aussitzen“, seien die Grünen „die Partei, die Klimaschutz im Wahlkampf nicht hur als Worthülse instrumentalisiert“. Und in Richtung SPD forderte sie: „Wir müssen ins Handeln kommen und unser Klimagesetz und unseren Klimaplan anpassen – das ist nicht einfach mit unserem Koalitionspartner.“ Die Partei dürfe zwar „niemals als Gegenpol zu Senat und Fraktion“ auftreten, aber schon „mit einer gewissen Eigenständigkeit“.
Blumenthal warb zudem dafür, das soziale Profil der Partei auszubauen: „Die Corona-Pandemie hat das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit massiv verschärft“, so Blumenthal. „Prekäre Lebens- und Arbeitssituationen, Familien am äußersten Limit, Bildungsungerechtigkeiten, der Rollback von Frauen und viele Ängste: Diese Pandemie hat einen tiefen Riss durch unsere Gesellschaft gezogen.“ Jetzt seien Empathie und Mut gefragt, die Grünen müssten raus in die Stadtteile und den Menschen zuhören, so Blumenthal: „Das wird ungemütlich. Wir müssen raus aus der Blase.“
„Schöner grüner Kern in Hamburg“
Mit Blick auf die Wählerschaft sagte sie, es gebe zwar einen „schönen grünen Kern in Hamburg, aber mit dem allein schaffen wir es nicht“. 40 Prozent der Menschen würden in Wandsbek, Harburg und Bergedorf leben, so die Mutter von drei Kindern. Offen erzählte sie, wie sie als Kleinkind mit ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet sei, 17 Jahre in einem Hochhaus in Steilshoop gelebt habe und Hartz-IV-Empfängerin gewesen sei: „Wenn wir es ernst meinen mit einer sozial gerechten Partei, dann müssen wir auch an solche Leute herantreten.“
Kurzfristig wichtigstes Ziel ist aber die Bundestagswahl im September, bei der die Grünen erstmals stärkste Kraft werden wollen – auch das mit neuem Personal: Katharina Beck wurde von den Mitgliedern zur Spitzenkandidatin gewählt. Die 38 Jahre alte Betriebswirtin und Unternehmensberaterin erhielt 483 der 541 abgegebenen Stimmen (89 Prozent).
Ergebnisse der digitalen Abstimmungen müssen noch per Briefwahl bestätigt werden
Ihre etwas überraschend angetretene Gegenkandidatin Frederice Klinge kam auf neun Stimmen. 29 Mitglieder lehnten beide Bewerberinnen ab, 20 enthielten sich. Alle Ergebnisse der digitalen Abstimmungen müssen noch im Nachgang per Briefwahl bestätigt werden – diese läuft bis zum 17. Juni.
„Diese Wahl ist entscheidender als jede andere – wir müssen sie gewinnen“, sagte Beck in einer emotionalen Bewerbungsrede. Sie habe zusammen mit Annalena Baerbock am Klimaschutzprogramm der Grünen gearbeitet: „Diese wunderbare Frau muss unsere Kanzlerin werden.“ Es mache sie „wirklich wütend“, dass Union und SPD erst nichts für den Klimaschutz getan hätten, sich dann aber darüber gefreut hätten, dass das Bundesverfassungsgericht das in einem Urteil eingefordert habe.
Katharina Beck tritt die Nachfolge von Anja Hajduk an
Ein Schwerpunkt ihrer Rede war ihre Wirtschaftskompetenz: Sie habe zwar auch DAX-Konzerne beraten, verwies aber darauf, dass in Hamburg jeder achte Erwerbstätige soloselbstständig sei – diesen Kleinunternehmen müsse mehr Beachtung geschenkt werden. Soziale und ökologische Kriterien müssten gegenüber wirtschaftlichen Faktoren mehr Gewicht bekommen.
Beck tritt die Nachfolge von Anja Hajduk an, die sich nach 20 Jahren in Bundestag, Senat und an der Parteispitze emotional aus der ersten Reihe verabschiedete. „Du hast in Hamburg Spuren hinterlassen“, bescheinigte Umweltsenator Jens Kerstan seiner Vorgängerin und langjährigen Weggefährtin. „Du wirst uns fehlen.“ Hajduk gab ihren Parteifreunden mit auf den Weg, „Verantwortung zu gewinnen für die große Rolle, die wir spielen wollen“. Unter Tränen betonte sie, dass sie nur ihr Mandat aufgebe, aber den Grünen treu bleibe.
Auch Platz vier war höchst umkämpft
Auf Platz zwei der Landesliste setzte sich unter sechs Bewerbern der frühere Justizsenator Till Steffen mit 320 der 566 abgegebenen Stimmen gleich im ersten Wahlgang vor Manuel Muja, Fraktionschef in Hamburg-Mitte, mit 216 Stimmen durch. Platz drei sicherte sich Emilia Fester: Die Kandidatin der Grünen Jugend setzte sich mit 276 zu 256 Stimmen gegen Linda Heitmann aus Altona durch.
Auch Platz vier war höchst umkämpft: Unter sechs Bewerbern und Bewerberinnen lag der langjährige Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin aus Harburg vorn. Er kam im ersten Wahlgang mit 258 von 509 abgegebenen Stimmen auf eine hauchdünne absolute Mehrheit. Platz fünf sicherte sich Linda Heitmann in einer Stichwahl mit 250 zu 203 Stimmen gegen Katja Husen. Da viele Kandidaten gut Chancen auf ein Direktmandat haben, ist offen, inwiefern die Landesliste zum Tragen kommt.