Bahrenfeld. Finanzierung des geplanten Supermikroskops unsicher. Hamburger Physiker befürchten Rückfall hinter internationale Konkurrenz.

In seinem Werbeblock für das wichtigste Zukunftsprojekt der Forschung in Hamburg bringt Arik Willner die Krux an der Sache in einem Nebensatz unter. Fortschritte in Naturwissenschaften und Technik entstehen oft durch ein besseres Verständnis winziger Strukturen und mikroskopischer Prozesse – dafür brauche es allerdings große Messinstrumente, die „leider auch sehr teuer“ seien, sagt der Technologie-Chef des außeruniversitären Forschungszentrums Desy.

Er steht in einer Experimentierhalle auf dem Campus in Bahrenfeld, umringt von Mitgliedern des Wissenschaftsausschusses der Bürgerschaft, zu der nun Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) stößt. Desy-Chef Helmut Dosch ist auch dabei an diesem Mittwochnachmittag, trotz anderer wichtiger Termine, die er eigentlich wahrnehmen müsse, betont Dosch.

Desy: Hamburg ist Schlusslicht im weltweiten Aufrüsten

Neben der Besuchergruppe ist ein dunkelblaues Plakat platziert, das einen Lichtbogen und den Slogan „New Dimensions“ zeigt. Neue wissenschaftliche Dimensionen will Desy mit einer Anlage namens Petra IV erreichen, wie nun der zuständige Projektleiter Harald Reichert ausführt. Dieses geplante 3-D-Röntgenmikroskop könne 100-mal detailreichere Bilder von Strukturen bis auf die Ebene von Atomen liefern als das aktuelle Modell Petra III und 100-mal schnellere Experimente ermöglichen. Allerdings gebe es weltweit etwa 25 bedeutende Quellen für sogenannte Synchrotronstrahlung. „Die werden jetzt alle aufgerüstet“, sagt Reichert. „Wir sind die Letzten.“

Ähnliche Lichtquellen entstehen in den USA und in China

Ein Messplatz der aktuellen Röntgenquelle Petra III am Desy in Bahrenfeld. Für die geplante Nachfolgeanlage Petra IV benötigt das Forschungszentrum nach eigenen Angaben rund 1,37 Milliarden Euro vom Bund und dem Land Hamburg.
Ein Messplatz der aktuellen Röntgenquelle Petra III am Desy in Bahrenfeld. Für die geplante Nachfolgeanlage Petra IV benötigt das Forschungszentrum nach eigenen Angaben rund 1,37 Milliarden Euro vom Bund und dem Land Hamburg. © desy/Heiner Mueller-Elsner

Hamburg, die aufstrebende Wissenschaftsstadt mit ihrer Exzellenzuniversität und dem vom Wissenschaftsrat so gelobten Forschungscampus in Bahrenfeld rund um das Desy, könnte ausgerechnet mit einem Teil ihrer Paradedisziplin Physik bald hinter die Spitzengruppe der internationalen Konkurrenz zurückfallen?

Reichert verweist auf andere geplante große Anlagen der vierten Generation. Die „Advanced Photon Source“ in Chicago gehe voraussichtlich Ende 2024 in Betrieb, Kosten: etwa eine Milliarde US-Dollar. Wohl schon Ende 2024 oder Anfang 2025 starte die „High Energy Photon Source“ in Peking, Kosten: auch etwa eine Milliarde Dollar. Dagegen das Hamburger System: Teilweise Inbetriebnahme voraussichtlich 2029. Dafür wäre Petra IV dann allerdings über Jahrzehnte hinaus die weltweit größte, leistungsfähigste Maschine für hochbrillante Synchrotronstrahlung, sagt Reichert.

Durch Petra IV bleibe „für das deutsche Wissenschaftssystem die Wettbewerbsfähigkeit erhalten“, erklärt das Desy in einer Broschüre. Das Supermikroskop werde etwa die Suche nach Medikamenten gegen neue Krankheitserreger beschleunigen und dazu beitragen, dass Branchen wie die Energie- und IT-Wirtschaft schneller als bisher von neuen Erkenntnissen profitierten.

Der Bund müsste 90 Prozent der Kosten für Petra IV übernehmen

Dass die Desy-Leute um Helmut Dosch die Relevanz des Projekts so herausstellen, darf man als Rechtfertigung der geschätzten Aufwendungen verstehen: 1,373 Milliarden Euro verteilt über acht Jahre von 2024 bis Ende 2031 brauche das Forschungszentrum für den Bau des Röntgenmikroskops und währenddessen anfallende Personalkosten, sagt Arik Willner vor den Abgeordneten des Hamburger Wissenschaftsausschusses.

Damit wird das Projekt erheblich teurer als ursprünglich geplant. Nach Angaben des Bundesforschungsministeriums von Ende 2020 waren die Kosten zunächst auf rund 670 Millionen Euro geschätzt worden. Im September 2022 sprach Desy-Chef Helmut Dosch dann schon von einem „Milliardenprojekt“. Zur Finanzierung muss man wissen: Weil das Desy zur außeruniversitären Helmholtz-Gemeinschaft gehört, würde der Bund 90 Prozent der Kosten für den Bau von Petra IV tragen, zehn Prozent entfielen auf das Sitzland Hamburg.

Desy: Kosten für Rohstoffe und Baufirmen gestiegen

Die jüngste Kostenschätzung basiere auf dem Stand von Ende 2022, sagt Arik Willner. Inzwischen sei die Bauplanung so weit fortgeschritten, dass sich die voraussichtlich nötigen Aufwendungen genauer als zuletzt beziffern ließen. Die Mehrkosten seien insbesondere mit der Verteuerung von Baurohstoffen und Leistungen von Bauunternehmen begründet. Die Gesamtkosten für Petra IV belaufen sich nach Desy-Berechnungen auf rund 1,541 Milliarden Euro, wobei Desy einen Eigenanteil von rund 169 Millionen Euro besteuern würde.

In 50 Hamburger Bars servieren Forschende „Wissen vom Fass“

Hamburg habe vor, seinen Anteil zu bezahlen, beteuert Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank vor dem Wissenschaftsausschuss, der am Mittwoch ausnahmsweise am Desy tagte. „Wir meinen das wirklich ernst.“ Auf Abendblatt-Nachfrage erklärt Fegebank später, sie habe schon in der vergangenen Legislatur bei der damaligen Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) für das Projekt geworben. Auch bei den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP habe sie sich für Petra IV eingesetzt. Eingang in die Vereinbarungen fand später allerdings nur der vage Satz: „Wir fördern gezielt zukunftsweisende Großforschungsanlagen.“

Fegebank bittet alle Bürgerschaftsfraktionen um Unterstützung

Fegebank sagt, sie habe sich zudem mehrfach gegenüber der amtierenden Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) starkgemacht für Petra IV, zuletzt im April 2022, als die Ministerin zur Einweihung eines neuen Zentrums für Röntgen- und Nanoforschung den Campus Bahrenfeld besuchte. Sogar bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sei Fegebank mit ihrem Anliegen vorstellig geworden, heißt es aus politischen Kreisen. Doch angesichts der schwierigen Haushaltslage zögere das Forschungsministerium, es habe in seinem Haushalt nicht vorausschauend Geld eingeplant für das Röntgenmikroskop, heißt es.

Eine Entscheidung zur Finanzierung von Petra IV müsse über den Bundestag laufen, sei den Hamburgern bedeutet worden. Und so appelliert Fegebank fast flehentlich an die Abgeordneten des Wissenschaftsausschusses, nun bei Bundestagsabgeordneten für Petra IV zu werben: „Tragen Sie Ihre Eindrücke nach Berlin – wir brauchen alle Kräfte“, sagt die Senatorin und bittet ausdrücklich auch die Nichtregierungsfraktionen um Unterstützung.

Hintergrundgespräch mit Bundestagsabgeordneten in Berlin

Fegebank und Desy-Chef Helmut Dosch treffen sich am kommenden Dienstag mit Bundestagsabgeordneten fast aller Fraktionen zu einem Hintergrundgespräch in Berlin. Es sei „allerhöchste Eisenbahn“, das Desy brauche rasch eine Entscheidung, sagt die Senatorin. Bis spätestens Mitte 2024 müssten die Zuwendungen genehmigt werden, wenn eine Inbetriebnahme 2029 starten solle, sagt Desy-Technologie-Chef Arik Willner. Davon hänge ab, wie gefragt Desy künftig sein werde. „Forschende gehen dahin, wo sie die meisten Daten bekommen.“ Petra-IV-Projektleiter Harald Reichert sagt: „Der Druck ist wirklich groß.“

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Wie aber sind die geplante Inbetriebnahme erst 2029 und die Eile nun zu erklären vor dem Hintergrund, dass Desy-Chef Helmut Dosch schon 2018 die „Strategie Desy 2030“ präsentiert hatte, zu der auch der Bau von Petra IV zählt? Auf Abendblatt-Anfrage hatte das Forschungszentrum damals erklärt, voraussichtlich im Jahr 2026 könnten die ersten Experimente starten. Bereits 2019 solle eine prinzipielle Machbarkeitsstudie vorliegen. Dieses Etappenziel erreichte das Desy tatsächlich – nicht allerdings sein zweites Etappenziel, bis 2021 eine Bauanleitung für die Maschine, die Experimente und die Infrastruktur zu erstellen, den Technical Design Report (TDR). Das Bundesforschungsministerium erklärte damals auf Anfrage des früheren Hamburger FDP-Bundestagsabgeordneten Wieland Schinnenburg, der TDR werde „voraussichtlich 2022 abgeschlossen sein“.

Desy: Erster Finanzierungsantrag für Petra IV bereits 2016 eingereicht

Derzeit arbeitet das Desy allerdings immer noch an diesem Plan. Entscheidend sei nicht der TDR, sondern der Antrag für die Finanzierung, sagt Petra-IV-Projektleiter Harald Reichert. Dieses rund 1200 umfassende Ersuchen, das alle für die Förderung nötigen Informationen aus dem aktuellen Stand des TDR zusammenfasse, sei fertig. Damit sei „auf Desy-Seite keinerlei Verzögerung ausgelöst“ worden. Desy habe den Antrag jedoch noch nicht eingereicht, da der Bewerbungsprozess weiterhin unklar sei: „Es gibt, Stand heute, kein offizielles Verfahren beim Bundesforschungsministerium, nach dem wir den Antrag zur Finanzierung von Petra IV einreichen könnten“, sagt Reichert. „Wenn es ein solches Verfahren im Jahr 2022 gegeben hätte, hätten wir damals schon einen Antrag eingereicht.“

Erstmals habe Desy sogar schon 2016 im Rahmen eines sogenannten bundesweiten Roadmap-Verfahrens auf Aufforderung des Forschungsministeriums einen Antrag für Petra IV eingereicht. Dieser Antrag sei zwar deutlich kleiner gewesen als das aktuelle Ersuchen, doch das habe damals keine Rolle gespielt, denn der Bund habe das Roadmap-Verfahren abgebrochen, sagt Reichert. Für einen erneuten Anlauf seien in den folgenden Jahren die politischen Rahmenbedingungen nicht günstig gewesen.

Helmut Dosch: Desy wird als „nationales Analytikzentrum“ fungieren

Zuletzt hatte das Desy sein Konzept für Petra IV erweitert. Dieses sieht nun vor, dass nicht nur Grundlagenforscher aus aller Welt, sondern auch externe Nutzer – Kliniken, Wirtschaft, Industrie und Fraunhofer-Institute für angewandte Forschung – das künftige Superröntgenmikroskop nutzen dürfen, als zahlende Kunden wohlgemerkt. Desy werde so als „nationales Analytikzentrum“ fungieren, erklärte Helmut Dosch im September 2022.

Neuerdings bezeichnet das Desy die künftige Großforschungsanlage als ein „datengetriebenes Lösungs-Ökosystem“. Harald Reichert formuliert es so: „Die Bundesregierung und das BMBF legen viel Wert auf die Förderung der Innovationsfähigkeit des Landes – das ist ein integraler Bestandteil unseres Projektes.“ Deshalb habe das Desy entschieden, den Zugang zu Petra IV zu verbessern. „Auch das macht das Projekt attraktiver für die Zuwendungsgeber“, sagt Reichert. Er glaubt: „Die politische Großwetterlage ist jetzt genau richtig für das Projekt Petra IV.“

Physik in Hamburg: Ministerium äußert sich nicht zu Desy-Projekt

Nach dem Appell von Fegebank im Wissenschaftsausschuss ist die Opposition zwar nicht restlos überzeugt, kündigt aber an, sich bei Bundestagsabgeordneten für Petra IV starkmachen zu wollen. Anke Frieling von der CDU sagt, sie sei „schon dabei“. Anna von Treuenfels-Frowein von der FDP erklärt auf Anfrage, sie werde „für dieses großartige Projekt auch in Berlin werben“. Stephanie Rose von den Linken sagt, ihre Fraktion sei zwar „grundsätzlich sehr für das Projekt“ und die Förderung der Grundlagenforschung in Hamburg. „Allerdings muss das Projekt transparenter durchgeführt werden als bisher.“

Unterm Strich kommt es nun vor allem auf den Bund an, so klingt die Hamburger Darstellung. Wie steht das Bundesforschungsministerium zu einer Mitfinanzierung von Petra IV in Hamburg? Eine Abendblatt-Anfrage dazu ließ das Ministerium trotz zweimaliger telefonischer Erinnerung unbeantwortet.