Hamburg. Verkehrssenator Anjes Tjarks und HVV-Geschäftsführerin Anna-Theresa Korbutt sprechen über Ticket-Rekorde und ihre neuen Pläne.

  • Das 49-Euro-Ticket ist offiziell gestartet. Der HVV spricht in Hamburg von einer Rekordsumme verkaufter Tickets
  • Mit einigen Angeboten will man das Deutschlandticket auch Unentschlossenen noch schmackhaft machen
  • Doch es gibt auch Bevölkerungsguppen, die sich jetzt benachteiligt fühlen

An diesem Montag, 1. Mai, startet der öffentliche Nahverkehr in Deutschland in ein neues Zeitalter. Mit dem 49-Euro-Ticket können Fahrgäste nicht nur ihren heimischen Verkehrsverbund nutzen, in Hamburg und Umgebung also die Busse, Bahnen und Fähren des HVV, sondern bundesweit sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel, außer Fern- und Schnellzüge. Und das zu einem Preis von 49 Euro im Monat, der in der Regel weit unter dem liegt, was sie bislang dafür bezahlen mussten.

Kurz vor dem Start dieses „Deutschland-Tickets“, wie es offiziell heißt, sprach das Abendblatt mit Hamburgs Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) und der HVV-Geschäftsführerin Anna-Theresa Korbutt über Ziele, Hoffnungen und Probleme mit dieser „Revolution“.

HVV: Für das 49-Euro-Ticket wurden bereits mehr als 50.000 Abos verkauft

Frau Korbutt, Herr Tjarks, Sie bezeichnen das 49-Euro-Ticket gern als größte Tarifrevolution in der HVV-Geschichte. Aber sind die Busse und Bahnen im HVV überhaupt kapazitätsmäßig auf einen zusätzlichen Ansturm an Fahrgästen eingestellt?

Anjes Tjarks: Wir liegen bei der Auslastung aktuell immer noch unter der Vor-Corona-Zeit, und wir haben seitdem mehrere Angebotsoffensiven durchgeführt. Das heißt, wir fahren effektiv mit einer höheren Kapazität und werden diese diese in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Insofern sind wir da gelassen, wissen aber natürlich auch um unsere zwei, drei herausfordernden Linien – etwa die S 3 nach Harburg oder die Fähre 62.

Zu Zeiten des 9-Euro-Tickets war die Auslastung ja schon spürbar höher, einige Züge wie die nach Sylt waren brechend voll. Wie wollen Sie verhindern, dass die günstigen Tickets am Ende mit dem Verlust des Sitzplatzes bezahlt werden?

Anna-Theresa Korbutt: Wir werden immer mal punktuell die Situation haben, dass einzelne Fähren, Busse oder Züge überlastet sind. Da müssen Sie gar nicht bis nach Sylt schauen. Aber wir haben auch zu Zeiten des 9-Euro-Tickets niemals die Kapazitätsgrenzen überschritten, wir waren etwa auf dem Vor-Corona-Niveau.

Das ist doch eine Durchschnittsbetrachtung, einige Linien sind voller, andere leerer. Wenn ich in einer zu 120 Prozent ausgelasteten S-Bahn sitze, nützt es mir nichts, dass es im Durchschnitt weniger ist.

Tjarks: Das betrifft vor allem die S 3 zwischen Harburg und dem Hauptbahnhof. Genau deswegen müssen wir die Kapazität ausweiten, vor allem bei der S-Bahn. Dort haben wir momentan 194 Fahrzeuge, und die nächsten 64 sind schon bestellt, sodass wir bis spätestens 2030 mit 258 Zügen fahren wollen. Die Ausweitung ist also in vollem Gange.

Mehr als 440.000 „Jedermann-Abos“ sind ein Rekord für den HVV

Wie viele 49-Euro-Tickets hat der HVV bislang verkauft?

Tjarks: Wir haben jetzt schon mehr als 53.000 Deutschland-Tickets verkauft. Und wir haben im Jedermann- oder Jederfrau-Segment – also die Abos ohne die Profitickets und die Semesterkarten – einen neuen absoluten Abo-Rekord im HVV aufgestellt. Da kommen wir ungefähr von 390.000, und wir sind mittlerweile bei über 440.000. Damit haben wir nicht nur die Corona-Delle wieder ausgeglichen, sondern vor dem offiziellen Start des Deutschlandtickets das Allzeit-Hoch an Abos im HVV geknackt.

Damit müsste der Gesamtbestand an Abos, der vor dem 49-Euro-Ticket bei rund 710.000 lag, auch auf Rekordniveau liegen, oder?

Korbutt: Das können wir zwar noch nicht exakt sagen, aber ich gehe davon aus, dass das so sein wird, weil wir einen sehr, sehr hohen Zulauf im Jobticket-Segment haben. Hier können wir aber aktuell nur die Firmen zählen, die teilnehmen, aber noch nicht, wie viele Personen dahinterstehen. Die Pipeline an Anträgen ist so voll, dass wir kaum mit der Bearbeitung hinterherkommen. Wir gehen hier von einem maximalen Anstieg aus. Viele Firmen wählen sogar einen höheren Zuschuss, sodass sie für ihre Mitarbeitenden einen Preis von 29 Euro erreichen.

Mit wie viel Nachfrage rechnen Sie noch?

Tjarks: Wir wollten mindestens 100.000 zusätzliche Deutschland-Karten innerhalb eines Jahres verkaufen. Das bleibt unser Ziel, aber aufgrund des tollen Starts wollen wir das jetzt natürlich etwas schneller schaffen.

60 Prozent der Kunden kaufen das Deutschland-Ticket online oder in der App

Können Sie schon sagen, wie die Nachfrage bei den noch zusätzlich von der Stadt bezuschussten Tickets für Schüler, Azubis und Bedürftige ist?

Korbutt: Auch hier gibt es einen großen Zuwachs. Wir haben aktuell knapp zweieinhalbtausend mehr Schüler-Tickets und 3500 Personen Sozialtickets mehr.

Akzeptieren die Kunden, dass sie das 49-Euro-Ticket vor allem in der HVV Switch App kaufen sollen? Oder wie verteilen sich die Buchungen?

Korbutt: Aktuell liegt die digitale Vertriebsquote bei 60 Prozent, vorher lag sie bei 18 Prozent. Das liegt vor allem an der Performance unserer HVV Switch App, wo Sie einfach mit ein paar mal Wischen Ihr Abo abschließen. Auch auf der HVV-Homepage ist das Produkt sehr sichtbar und führt zu vielen Abschlüssen.

Tjarks: Die Digitalisierung baut Hürden ab, weil es ja viel leichter ist, dort ein Abo zu bestellen und es auch wieder zu kündigen.

Wer mitten im Monat ein Deutschland-Ticket kauft, zahlt im HVV auch nur tageweise

Wie denn?

Tjarks: Dafür brauchen Sie auch nur einen Klick und einen Wisch. Hochbahn und HVV haben da eine Lösung gefunden, die deutschlandweit führend ist. Ein Beispiel: Nur im HVV kann man ohne Bestellfristen ins Deutschland-Ticket einsteigen, und man zahlt dann auch für den ersten Monat nur anteilig. Wer am 27. Mai ein Deutschland-Ticket kauft, zahlt für diesen ersten Monat auch nur die letzten fünf Tage und erst den nächsten Monat voll. Das ist sehr, sehr kundenfreundlich und nicht überall so.

Korbutt: Genau. In Berlin zum Beispiel muss man sich bis zum 20. des Vormonats angemeldet haben, um ab dem Mai oder ab Juni ein Ticket zu bekommen. Das schreckt sicher viele Kunden ab.

Tjarks: Wir wollen mit dem Deutschland-Ticket die Kundenfreundlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs deutlich erhöhen. HVV und Verkehrsunternehmen holen zum Beispiel im Regelfall keine Schufa-Auskunft ein, weil wir Kunden nicht ausgrenzen wollen, nur weil sie mal finanzielle Probleme hatten. Neben dem attraktiven Preis gehören auch attraktive Vertriebswege und ein Abbau von Bürokratie dazu. Allein dadurch, dass im HVV-Gebiet 150 Zonen entfallen, sparen wir zwei Millionen Euro an Bürokratiekosten im Jahr und setzen Kapazitäten frei, um noch weitere Verbesserungen zu entwickeln.

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Von Jens Meyer-Wellmann und Andreas Dey

HVV: Künftig soll es ein Familienkonto geben wie bei Netflix oder Spotify

Welche zum Beispiel?

Tjarks: Natürlich brauchen wir auch noch andere Bezahlkanäle wie Google Pay, Apple Pay, Sepa Lastschrift und andere, die wir jetzt auf die Schnelle noch nicht integrieren konnten. Und wir wollen ein Familienkonto entwickeln, ein bisschen wie bei Netflix oder Spotify, sodass Eltern Tickets kaufen können, die dann auch für ihre Kinder gelten. Dass man das Schülerticket bislang nicht in der App kaufen kann, liegt nämlich daran, dass die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler noch nicht geschäftsfähig ist.

Korbutt: Durch den Wegfall der 150 Zonen sind wir viel schneller und flexibler. Etwa, weil wir nicht mehr auf große IT-Dienstleister angewiesen sind, wo man bei einem Änderungswunsch schon mal sieben Monate warten muss, bis er umgesetzt wird. Dagegen haben wir die Entwicklung der HVV Switch App in drei Monaten geschafft – von der Idee bis zur Geburtsstunde Anfang April.

Wie erklären Sie, dass Sie bei privaten Unternehmen dafür werben, Ihren Mitarbeitern ein vergünstigtes Profi-Ticket anzubieten, wie fast alle städtischen Unternehmen wie die Stadtreinigung das auch tun –, aber der Senat selbst das seinen 77.000 Mitarbeitern in Ämtern und Behörden verweigert?

Tjarks: Ich habe selbst ein Profi-Ticket, das für Angestellte der Stadt aktuell 88 Euro im Monat kostet. Wenn Sie weiter draußen wohnen, kostet es bis zu 200 Euro. Das bekommt man in Zukunft für 49 Euro, und es gibt ganz Deutschland umsonst obendrauf. Auch die Angestellten der Stadt sparen also ordentlich. Zudem haben wir immer betont, dass wir das als Teil der Tarifverhandlungen für die Länder-Beschäftigten im Herbst sehen, und zwar nicht nur für Hamburg, sondern für ganz Deutschland. Unser Finanzsenator Andreas Dressel ist da Verhandlungsführer der Bundesländer, und unser Ziel ist es, möglichst im Sinne aller Beschäftigten der Länder eine gute Lösung zu finden.

Senioren, die Bus und Bahn selten nutzen, fühlen sich benachteiligt

Viele Senioren fühlen sich benachteiligt, weil sie nicht täglich zur Arbeit fahren, sondern Busse und Bahnen nur sporadisch nutzen. Die Preise von Einzelfahrscheinen und Tageskarten bleiben aber unverändert und sind künftig im Verhältnis zum 49-Euro-Ticket noch teurer. Ist das nicht ungerecht?

Korbutt: Wir haben jetzt zum Start des Deutschland-Tickets erst mal das Zeitkarten-Segment revolutioniert. Natürlich wissen wir, dass wir bei den Einzelfahrscheinen auch noch Hausaufgaben haben, die wir jetzt angehen wollen. Das heißt nicht, dass es billiger wird, aber wir wollen auch für seltene HVV-Nutzer und Einsteiger eine Lösung anbieten. Man muss aber auch bedenken: Die Stadt Hamburg investiert jetzt schon fast 500 Millionen Euro bis 2025 in diese Ticketrevolution, und jede Preisschraube, die man weiter nach unten dreht, macht es für die Steuerzahler noch teurer.

Tjarks: Man muss ja auch betonen, dass sich bei den Einzelfahrscheinen gar nichts verändert, es wird nichts teurer, niemand wird schlechter gestellt.

Das ist ja gerade die Kritik: Die Abo-Preise werden massiv gesenkt, die der Einzelkarten aber nicht. Das benachteiligt sporadische Nutzer wie es viele Senioren sind.

Tjarks: Aber wer ein Senioren-Abo hat, hat für Hamburg AB vorher 54 Euro gezahlt und künftig sind es nur noch 49 Euro. Das ist zwar ein kleiner Reduktionsschritt, aber es ist einer, und das bei erheblich größerem Angebot. Das Produkt, das man dafür bekommt, ist viel, viel besser und einfacher.