Hamburg. Was hat Olaf Scholz wirklich zum Fall Warburg gesagt? 13 Bundestagsabgeordnete haben unterschiedliche Erinnerungen – oder gar keine.

Die Erforschung des menschlichen Gehirns gehört zu den komplexeren Wissenschaften. Allem technischen Fortschritt zum Trotz ist es zum Beispiel nicht möglich, einfach eine Erinnerung wie von einer Computer-Festplatte auszulesen – geschweige denn auch nur mit Sicherheit zu bestimmen, welche Erinnerung überhaupt in einem Kopf vorhanden ist.

Eine Gruppe von Hamburgern und Hamburgerinnen versucht sich dennoch seit mehr als zwei Jahren hartnäckig daran – obwohl es nicht mal Wissenschaftler sind, sondern Politiker, genauer Mitglieder des Parlamentarischen Cum-ex-Untersuchungsausschusses (PUA) der Bürgerschaft. Ihr „Forschungsobjekt“ ist der Kopf von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

Cum-Ex-Affäre: Erinnert sich Olaf Scholz wirklich nicht an Treffen mit Warburg-Vertretern?

Im Kern geht es ihnen derzeit um die Frage, ob in dem prominenten Gehirn wirklich keinerlei Erinnerung an drei Treffen des früheren Bürgermeisters mit Gesellschaftern der Hamburger Warburg-Bank in den Jahren 2016 und 2017 vorhanden ist, wie Scholz beständig behauptet. Oder ob das nur vorgeschoben sein könnte, um weitere Nachfragen zu ersticken.

Um in dieser Frage weiterzukommen, hat der PUA am Freitag ein ziemlich einzigartiges politisches Schauspiel inszeniert: 13 aktuelle oder ehemalige Bundestagsabgeordnete, darunter Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), der profilierte Cum-ex-Jäger Fabio de Masi (ehemals Linkspartei) und die Parlamentarische Staatssekretärin Cansel Kiziltepe (SPD), wurden aus allen Teilen der Republik nach Hamburg bestellt und nacheinander fast acht Stunden lang im Rathaus dazu vernommen.

Trotz 13 Zeugen: Schlüssel zum Kopf des Kanzlers bleibt unauffindbar

Doch nicht nur gemessen an dem enormen Aufwand war der Erkenntnisgewinn gering, der Schlüssel zum Kopf des Kanzlers blieb unauffindbar. Die Opposition sah sich bestätigt, dass Scholz in Wahrheit doch Erinnerungen habe, die er aus Gründen des Selbstschutzes verberge.

„Teflon-Scholz bekommt Kratzer“, verbreitete die AfD schon nach der Hälfte der Befragungen, die CDU sah „die behauptete Totalamnesie von Olaf Scholz endgültig in sich zusammengefallen“ und die Linke war sich nun sicher, dass Scholz die Politik „in die Irre“ geführt habe.

Der ehemalige Hamburger Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi, früher Mitglied der Linkspartei, sagte am Freitag als Zeuge vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft aus.
Der ehemalige Hamburger Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi, früher Mitglied der Linkspartei, sagte am Freitag als Zeuge vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft aus. © dpa | Marcus Brandt

Aus sozialdemokratischer Sicht konnte dieser Verdacht hingegen nicht erhärtet werden. Milan Pein (SPD) sprach von einem „Polittheater“, das nur von dem eigentlichen Ergebnis des Untersuchungsausschusses ablenken solle: Dass der Stadt nämlich kein Schaden entstanden sei und fast alle Zeugen bestätigt hätten, dass es keine politische Einflussnahme gegeben hat.

Im Fall Warburg ging um es Steuern in Höhe von 47 Millionen Euro

Warum dann der ganze Aufwand? Dafür muss man etwas ausholen: Cum-ex-Geschäfte hatten den einzigen Zweck, sich Steuern vom Staat erstatten zu lassen, die man nie gezahlt hatte. Der Schaden ging bundesweit in die Milliarden. 2016 war der Hamburger Finanzverwaltung aufgefallen, dass auch die Warburg-Bank solche Geschäfte getätigt hatte, daher wollte man rund 47 Millionen Euro an Steuern zurückfordern.

Die damaligen Gesellschafter um Christian Olearius wurden daraufhin zwei mal im Rathaus bei Bürgermeister Scholz vorstellig, der sie an den damaligen Finanzsenator und heutigen Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) verwies.

Kurz darauf entschied die Finanzverwaltung, die Forderung doch nicht zu erheben – nach Tschentschers Darstellung, weil man nicht die Pleite der Bank riskieren wollte und lieber darauf setzte, dass diese im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung das Geld ohnehin zurückzahlen müsse. So kam es auch. 2017 wiederholte sich die Geschichte im Prinzip in ähnlicher Form.

Scholz und Tschentscher streiten ab, Einfluss genommen zu haben

Die politisch entscheidende Frage ist also: Haben Scholz und Tschentscher Einfluss auf diese Entscheidungen genommen? Beide bestreiten das. Wobei der Bundeskanzler zusätzlich geltend macht, dass er sich an die Treffen mit den Warburg-Chefs gar nicht mehr erinnere. Was ihm die Opposition nicht abkauft.

Und ihre Zweifel bekamen vergangenes Jahr neue Nahrung: Da wurden bisher geheim gehaltene Protokolle des Bundestags-Finanzausschusses veröffentlicht, die darauf hindeuten, dass Scholz doch noch Erinnerungen an die Treffen hatte.

Jedenfalls hatte er als Bundesfinanzminister in zwei Sitzung im Jahr 2020 mehrfach darauf verwiesen, dass er nur mit Rücksicht auf das Steuergeheimnis nichts zu den Fällen sagen könne. Von komplett fehlender Erinnerung war damals keine Rede – jedenfalls nicht in den Kurz-Protokollen, die nicht den vollständigen Wortlaut wiedergeben.

Fabio de Masi: Erst bei der dritten Befragung hatte Scholz keine Erinnerung mehr

Um diesen Widerspruch aufzuklären, wurden also die Mitglieder des Finanzausschusses nach Hamburg vorgeladen. Während die damalige Ausschuss-Vorsitzende Katja Hessel (FDP), heute Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium, wenig beitragen konnte, weil sie in der politisch brisanten Sitzung seinerzeit mehr „mit Formalitäten beschäftigt“ war“, wie sei einräumte, nutzte Fabio de Masi die Bühne zum großen Rundumschlag.

Scholz habe bei der ersten kurzen Sitzung des Finanzausschusses im März 2020 ein Treffen mit Olearius eingeräumt – jenes im Jahr 2017, so der frühere Linken-Politiker. In der ausführlicheren Juli-Sitzung habe er dazu weiter erklärt, dass er vor allem zugehört und zurückhaltend reagiert habe – demnach müsse er also Erinnerungen gehabt haben.

Doch bei einer dritten Sitzung im September, als mittlerweile bekannt geworden war, dass es 2016 zwei weitere Treffen gegeben hatte, habe Scholz plötzlich keine Erinnerung mehr gehabt.

Der Spagat der Lisa Paus: Von der Scholz-Kritikerin zum Kabinettsmitglied

„Zuvor gab es keine explizite Erwähnung von Erinnerungslücken“, so de Masi. Ähnlich stellte es später der AfD-Abgeordnete Kay Gottschalck dar: Scholz habe im September „komplett zu“ gemacht. De Masi deutete zudem an, dass es mal ein Tonband der Sitzung gab – dieses soll nach Abendblatt-Informationen aber routinemäßig gelöscht worden sein.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) nach ihrer Zeugenaussage vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA)
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) nach ihrer Zeugenaussage vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) "Cum-Ex-Steuergeldaffäre" der Hamburgischen Bürgerschaft. © dpa | Marcus Brandt

Die ungewöhnlichste Rolle hatte Bundesfamilienministerin Lisa Paus. In ihrer früheren Rolle als finanzpolitische Sprecherin der damals oppositionellen Grünen war sie eine der schärfsten Scholz-Kritikerinnen und hatte diesen mit Blick auf die verschwiegene Treffen mit Olearius sogar als „Lügner“ bezeichnet – jetzt sitzt sie mit ihm am Kabinettstisch.

Etliche Abgeordnete können sich selbst nicht mehr an die Sitzungen erinnern

Ohne danach gefragt zu werden, räumte die 54-Jährige ein, Scholz früher „harte Vorhaltungen“ gemacht zu haben. Zu bewerten, ob diese aufrecht erhalten werden können, sei nun aber die Aufgabe des Untersuchungsausschusses, nicht mehr ihre: „Mehr habe ich zu der Sache nicht zu sagen.“ Und viel mehr sagte sie auch nicht. Auf fast alle Fragen, was Scholz damals im Ausschuss gesagt habe, erwiderte Paus nur, an die Frage erinnere sie sich, an die Antwort hingegen nicht mehr.

Auch die SPD-Politikerin Cansel Kiziltepe, heute Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesbauministerium, hatte „leider“ keine konkreten Erinnerungen mehr an die Sitzungen. Sie meine, dass Scholz einmal gesagt habe, er könne sich nicht erinnern, aber: „Vieles verwischt sich“, so Kiziltepe. Es seien immerhin drei Sitzungen gewesen, und sie wisse nicht mehr, was in welcher Sitzung gesagt wurde.

SPD: Scholz hat sich nicht erinnert, sondern nur Medienberichte wiedergegeben

Ganz anders hatte es der Zeuge Markus Herbrand (FDP) abgespeichert: „Ich habe in Erinnerung, dass er gesagt hat, dass er sich an ein Treffen mit Herrn Olearius erinnern kann.“ Auf Nachfrage des PUA-Vorsitzenden Mathias Petersen (SPD) räumte der Bundestagsabgeordnete aber ein, dass er sich doch „nicht mehr sicher“ sei, ob Scholz nicht nur bestätigt habe, was Medien berichtet hatten.

Dies war die Verteidigungslinie der SPD. Ihr Obman Milan Pein fragte alle Zeugen, ob Scholz in den Sitzungen irgendetwas berichtet habe, was nicht schon zuvor schon in der Zeitung gestanden habe. Und fast alle räumten ein, dass das nicht der Fall gewesen sei. Ergo, so Peins Fazit, habe Scholz nicht aus eigener Erinnerung ausgesagt, sondern nur Medienberichte rezitiert. So bestätigte es auch Michael Schrodi, finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Ausschuss will keine weiteren Bundestagsabgeordneten vorladen

„Aus meiner Sicht muss es trotzdem Erinnerungen geben an die Gespräche“, sagte der Nürnberger CSU-Politiker Sebastian Brehm. Sein Parteifreund Hans Michelbach berichtete vom Frust einiger Abgeordneter: Viele hätten sich von Scholz „vorgeführt“ gefühlt, so das CSU-Urgestein.

Brehm verabschiedete sich dennoch mit freundschaftlichen Worten aus dem Rathaus: „Ich bin überwältigt von dem schönen Sitzungssaal.“ Weitere Bundestagsabgeordnete werden den zunächst nicht zu Gesicht bekommen. Da die Erforschung der Kanzler-Gehirns so unergiebig verlief, verzichtete der PUA darauf, kommende Woche die restlichen Mitglieder des Finanzausschusses vorzuladen.