Hamburg. Der Minister soll entgegen allen Leitlinien Paxlovid genommen und dafür massiv Werbung gemacht haben – aus einem bestimmten Grund.
Die Corona-Infektion des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) sowie die Einnahme des Covid-Medikaments Paxlovid und seine offenkundige Werbung dafür (unter anderem bei Twitter) haben für erhebliche Aufregung unter Hamburger Ärzten gesorgt. Von einer „Irreführung“ der Patientinnen und Patienten ist die Rede und einer Doppelmoral des Ministers. Auf der einen Seite verlange die Politik, dass sich alle an Regeln wie die zu den Corona-Impfungen und zur Maskenpflicht halten. Andererseits, so heißt es, setze sich Lauterbach in öffentlichen Äußerungen über wissenschaftliche Erkenntnisse und sogar medizinische Behandlungsleitlinien hinweg.
Paxlovid: Lauterbach nahm Covid-Medikament nach Corona-Infektion
Der ärztliche Geschäftsführer der Facharztklinik am UKE, Dr. Torsten Hemker, sagte dem Abendblatt: Lauterbach ignoriere die Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Demnach könne Paxlovid angewendet werden bei hohem Alter, bei Vorliegen mehrerer Risikofaktoren wie Adipositas, Diabetes und Immunschwäche, Krebs oder Herz- und Lungenerkrankungen.
Hemker sagte: „Also entweder gehört der Minister zur Risikogruppe, dann ist er deshalb nicht regierungsfähig oder für ihn gelten andere Kriterien, was seine Regierungsfähigkeit mit ständigem Hinweis auf seine ,wissenschaftlich begründeten Entscheidungen‘ ebenfalls in Frage stellt.“
Paxlovid: Karl Lauterbach erklärte sich auf Twitter
Lauterbach hatte seine Corona-Infektion am 5. August per Twitter öffentlich gemacht. Noch in der Nacht schickte das Gesundheitsministerium eine offizielle Nachricht. Lauterbach schrieb in dem Kurznachrichtendienst an eine Million Follower: „Bin leider trotz großer Vorsicht an Corona erkrankt. Trotz 4. Impfung. Die Symptome sind noch leicht. Zur Vermeidung von Komplikationen nehme ich Paxlovid. Für die vielen guten Wünsche bedanke ich mich bei allen. Hass und Niedertracht, kommt auch vor, werden ignoriert.“
Später schrieb er bei Twitter unter anderem: „Mit 4. Impfung plus Paxlovid im Erkrankungsfall lassen sich bei Älteren fast alle Todesfälle vermeiden.“ Und er warb für eine Einnahme des Pfizer-Medikaments, weil es so leicht zugänglich sei: „Ab sofort dürfen Hausärzte das antivirale Medikament Paxlovid selbst dem Patienten abgeben, auch ohne Gang zur Apotheke. Beim Hausbesuch oder in der Praxis. Paxlovid senkt bei Älteren die Corona Sterblichkeit um bis zu 90%. Es wird viel zu wenig genutzt.“
Und wiederum später ergänzte Lauterbach: Der Hausarzt könne sogar per Telefon die Covid-Diagnose stellen, Paxlovid könne verschrieben werden und ein Bote das Medikament nach Hause liefern. „Das kann Leben retten.“
"Der leichtfertige Umgang mit einem Medikament wie Paxlovid ist nicht adäquat"
In einer Stellungnahme für das Hamburger Abendblatt ließ Lauterbach über die Umstände seiner Paxlovid-Einnahme mitteilen: „Die Indikationsstellung für eine Therapie im Einzelfall ist eine ärztliche Entscheidung, das gilt auch für die Behandlung eines Ministers.“
Mit dieser Erklärung geben sich Hamburger Ärzte nicht zufrieden. Der Vorsitzende der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung und frühere Sprecher der medizinischen Leiter im Impfzentrum, Dr. Dirk Heinrich, sagte: „Herr Lauterbach wird seiner Verantwortung als Minister nicht gerecht. Der leichtfertige Umgang mit einem Medikament wie Paxlovid ist nicht adäquat. Wenn er öffentlich macht, dass er es genommen hat und empfiehlt, dann sollte er sagen, warum.“
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Heinrich gefällt die Kakofonie der Empfehlungen und Meinungen abseits der klaren Stiko- und medizinischen Richtlinien überhaupt nicht: „Ich bin nicht sein Arzt.“ Aber: Bei Paxlovid müsse man Risiken und Nebenwirkungen gegen den Nutzen abwiegen. Man könne es nicht einfach jedem 50-Jährigen verschreiben, der offensichtlich keine Risikofaktoren habe und geboostert sei. Das stehe so in den Behandlungs-Leitlinien. „Darüber sollte man sich nicht hinwegsetzen“, ergänzte Prof. Stefan Kluge, Intensivmediziner und Klinikdirektor am UKE.
Paxlovid: Was aktuelle Studien sagen
Auch der Hersteller erinnert im Beipackzettel in klaren Worten an die Nebenwirkungen und vor allem an die möglichen Wechselwirkungen des Medikaments mit anderen Arzneien. Von häufig auftretendem Kopfschmerz, Durchfall, Erbrechen und Beeinträchtigung des Geschmackssinns ganz zu schweigen. Hamburger Ärzte haben diese Nebenwirkungen beobachtet.
In einer neuen Studie aus dem „New England Journal of Medicine“ wird beschrieben, dass Menschen unter 65 Jahren keinen Effekt durch die Einnahme antiviraler Medikamente wie Paxlovid genießen. Hierbei geht es um das Risiko von möglicher Krankenhauseinweisung oder gar Tod. Bei Ungeimpften während der viel „schlimmeren“ Delta-Variante war das anders. Sie profitierten von dieser Behandlung. Eine frühe israelische Studie hatte dasselbe nahegelegt.
Paxlovid: Auch US-Präsident Joe Biden bekam das Medikament
Auch US-Präsident Joe Biden bekam Paxlovid. In seinem Alter (79) und bei möglichen Risiken, die er mitbringt, ist das nachvollziehbar. Jedoch litt er am „Rebound-Effekt“, was bei Paxlovid beschrieben wurde: Kaum war er genesen, wurde er erneut positiv getestet.
„Paxlovid kann bei über 65-Jährigen mit Risikofaktoren das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes bei einer Corona-Infektion und die Gefahr einer Hospitalisierung senken“, so UKE-Mediziner Kluge. „Für Jüngere, geboosterte Menschen gibt es nach derzeitigem Studienstand keinen Nutzen.“ Ohne konkret auf den Fall Lauterbach eingehen zu können, sagte Kluge: „Bei einem Patienten im Alter von 59 Jahren, der offensichtlich schlank ist, viermal geimpft und keine offensichtlichen Risikofaktoren mitbringt, kann auf die Gabe von Paxlovid verzichtet werden.“
Unzulässige Werbung für ein Medikament, das bald abläuft?
Lauterbach wurde bereits vorgeworfen, er mache unzulässige Werbung für Paxlovid. In Deutschland gilt das Medikament anders als in den USA als Ladenhüter. Eine Anfrage der CSU an das Bundesgesundheitsministerium ergab, dass von einer Million bestellter Packungen 460.000 an den Großhandel ausgeliefert seien. 280.000 davon hätten ein Verfallsdatum im Februar 2023.
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtete, Lauterbach setze sich für Paxlovid ein, um zu verhindern, dass die für Millionen von der Bundesregierung eingekauften Arzneien weggeworfen werden müssten. Von den 460.000 Packungen im Großhandel wurden bislang nur einige Zehntausend an die Apotheken ausgeliefert, berichtete zuletzt das ZDF.
Die „Ärztezeitung“ fragte in ihrer Lauterbach-Kritik: „Wozu brauchen wir noch die Arzneimittelbehörden, die nach möglichst umfassenden klinischen Prüfungen Indikationen vorgeben?“ Die evidenzbasierte Medizin, also der Nachweis des Nutzens, werde ersetzt durch die „eminenzbasierte“. Ob Prof. Lauterbach für diese Ironie offen ist, muss sich zeigen.