Hamburg. Alles begann mit einem beleidigenden Tweet gegen den Innensenator. Der Post sorgte bundesweit für Aufsehen und Kopfschütteln.
Niemand hat die Welle kommen sehen – am wenigsten wohl Marlon P., als er auf Senden drückte und unter einen Tweet von Innensenator Andy Grote (SPD) schrieb: „Du bist so 1 Pimmel“.
Erst erschien die Staatsmacht bei ihm zur Razzia, dann wurde „Pimmelgate“ im Herbst 2021 zu einer handfesten Affäre: Innensenator Andy Grote (SPD) musste sich wegen seines Strafantrags bundesweiten Spott und auch Rücktrittsforderungen gefallen lassen, Linke und die Polizei lieferten sich ein tagelanges Scharmützel und malten gegenseitig eine Plakatfläche an der Roten Flora über, es wurden Poster und Sticker mit der vermeintlichen Beleidigung gedruckt und wieder konfisziert, selbst die „Washington Post“ berichtete über den Fall.
Andy Grote: War "Pimmelgate" wirklich ein Straftat?
Am Ende aber blieben zwei Fragen offen: Wird „Hate Speech“ energischer bekämpft, wenn sie Spitzenpolitiker betrifft? Und ist es wirklich eine Straftat, den Innensenator als „Pimmel“ zu bezeichnen? Zumindest auf die zweite Frage gibt es nun so etwas wie eine Antwort. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft bestätigte dem Abendblatt auf Anfrage, dass das Strafverfahren gegen Marlon P. wegen Beleidigung eingestellt worden ist.
Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich nahm die Akte demnach bereits im März an sich und traf die Entscheidung – seine Begründung gibt dem kuriosen Fall eine weitere Pointe: Es gebe ein „fehlendes öffentliches Interesse an der weiteren Strafverfolgung“, deshalb ließ Fröhlich die Vorwürfe fallen. Damit widerspricht der Generalstaatsanwalt nicht nur der vorigen Einschätzung seines Apparats, die Fröhlich in einem Abendblatt-Interview auch selbst als „vertretbar“ bezeichnet hatte.
Staatsanwaltschaft schweigt über Gründe der "Rolle rückwärts"
Grote hatte nach Bekanntwerden der Razzia seinen Strafantrag gerade damit begründet, dass „Hate Speech“ konsequenter verfolgt werden solle und sich niemand beleidigen lassen müsse. Das gelte auch für Spitzenpolitiker.
Zum Hintergrund des Sinneswandels bei der Staatsanwaltschaft wollte die Sprecherin sich nicht äußern. Interne Vorgänge kommentiere man nicht öffentlich. Der Fall hat auch zu Verstimmungen zwischen dem Innensenator und der Staatsanwaltschaft geführt. Aus Grotes Umfeld heißt es, hätte die Staatsanwaltschaft nicht gleich eine Durchsuchung bei Marion P. für nötig gehalten, wäre die Affäre nie entstanden.
Andy Grote hatte unter Anfeindungen zu leiden
Für Grote war „Pimmelgate“ alles andere als amüsant. Es habe neben Spott auch Anfeindungen gegeben, seine Familie habe darunter gelitten. „Wenn meine Frau nach Hause kommt und (...) jemand seine Exkremente vor unserer Toreinfahrt hinterlassen hat, ist das schon grenzüberschreitend“, sagte Grote in einem Interview mit der „Zeit“.
Marlon P., der die Fankneipe Zoo St. Pauli betreibt und unter deren Namen twitterte, darf sich dagegen als Sieger des juristischen Tauziehens um das P-Wort fühlen. Nach Abendblatt-Recherchen hatte die Staatsanwaltschaft Marion P. zuvor angeboten, gegen Zahlung einer Geldbuße an eine gemeinnützige Einrichtung auf eine weitere Strafverfolgung zu verzichten.
Tweet-Verfasser ließ es auf einen Rechtsstreit ankommen
Als die erste Zahlungsrate ausblieb, habe man den Beschuldigten erneut aufgefordert, den Betrag zu überweisen – „und erklärt, anderenfalls das Einstellungsangebot zu widerrufen, das Verfahren fortzusetzen und den Erlass eines Strafbefehls zu beantragen“, wie die Sprecherin der Staatsanwaltschaft auf Anfrage weiterhin bestätigte.
Marlon P. weigerte sich jedoch weiterhin und ließ es darauf ankommen. Mit Erfolg, da Generalstaatsanwalt Fröhlich das Verfahren ohne Geldbuße einstellte. Ein Strafbefehlsantrag wäre weiter möglich gewesen, da die Ermittlungen fortgeschritten waren und Marlon P. selbst zugegeben hatte, den Tweet verfasst zu haben.
Andy Grote fühlte sich zu unrecht an den Pranger gestellt
Auch Andy Grote weiß offenbar nicht, wie es zu diesem Ausgang kam. Er hat zwar Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft beantragt, aber nicht erhalten. Bereits früher verlautete aus seinem Umfeld, dass er sich zu Unrecht an den Pranger gestellt sehe.
Der fragliche Tweet war der Social-Media-Abteilung der Polizei aufgefallen, diese hatte Grote den Strafantrag zur Unterschrift vorgelegt. Nach seiner eigenen Lesart steckte der Senator damit bereits in der Zwickmühle: Einerseits erlebe er viel schlimmere Beleidigungen und fühle sich von der Bezeichnung als „Pimmel“ gar nicht derart angefasst. Andererseits fürchtete Grote, nach innen das falsche Signal zu setzen, wenn er einen Strafantrag in diesem Fall ablehne.
In den Reihen der Staatsanwaltschaft hielt sich das Mitleid aber in Grenzen. Beleidigung ist ein Antragsdelikt, so die nüchterne Ansicht dort – und wer Strafverfolgung „bestelle“ wie Grote, der bekomme sie auch. Bei der Polizei gab es dagegen Kopfschütteln über beide Seiten.
Hatte Andy Grote bei "Pimmelgate" einen VIP-Bonus?
Die Beamten vor Ort waren so unbegeistert wie verunsichert, als die Sticker und Plakate mit dem P-Wort im Schanzenviertel und anderswo auftauchten. Sollten sie wirklich deshalb einschreiten? Auch war im Präsidium davon die Rede, dass die Staatsanwaltschaft Grote anfänglich wohl einen „VIP-Bonus“ eingeräumt habe – wenn auch ohne sein Wissen.
Gerade in den sozialen Medien, wo „Pimmelgate“ wochenlang bundesweit ein Top-Thema war, wurde auch behauptet, Grote habe die Staatsanwaltschaft zur Durchsuchung bei Marlon P. gedrängt. Tatsächlich gab es darauf nie einen Hinweis. Staatsanwaltschaft und Justizbehörde mussten jedoch einräumen, dass eine Razzia wie in diesem Fall eher eine Seltenheit ist.
Anfangs hieß es von der Polizei noch, von Januar bis Herbst 2021 habe es eine „mittlere zweistellige Zahl“ an Durchsuchungen wegen ähnlicher Fälle gegeben.
Eine Senatsanfrage brachte aber kurz darauf ans Licht, dass tatsächlich nur sieben Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt wurden. Die Linke in der Bürgerschaft sprach daraufhin von Täuschung. Die Justizbehörde unter Führung von Anna Gallina (Grüne) bekräftigte angesichts der „Pimmelgate“-Affäre, dass es ihr mit der Offensive gegen „Hate Speech“ ernst sei – diese aber erst richtig anlaufen müsse.
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Danach gefragt, wie sich die Zahlen entwickelt haben, teilt die Generalstaatsanwaltschaft aktuell mit: „Seit Juni 2021 wurden in circa 40 Verfahren der Hasskriminalität im Internet Durchsuchungsbeschlüsse beantragt.“
"Hate Speech"-Verfahren steigen deutlich an
Die Zahl der Verfahren stieg im ersten Halbjahr dieses Jahres extrem auf 148 Fälle an – fast ausschließlich getrieben durch die Gruppenvergewaltigung im Stadtpark, nach der es zahlreiche Aufrufe zur Lynchjustiz gab. Bei der großen Masse von 5925 Verfahren wegen Beleidigung bei der Staatsanwaltschaft lasse sich dagegen nicht sagen, wie hoch der Anteil von „Hate Speech“ im Netz und die Zahl von Razzien war.
Zuletzt tauchten im Mai erneut Plakate an Bushaltestellen auf, in denen Andy Grote als „Pimmel“ bezeichnet wurde. Dass der Generalstaatsanwalt auch bei Marlon P. keinen Anlass zur Strafverfolgung mehr sieht, könnte auch am Verhalten des Betroffenen liegen: Grote hat intern deutlich gemacht, dass er keine weiteren Strafanträge stellen wird und sich bloß ein Ende von „Pimmelgate“ wünscht.