Hamburg. Vielen Lehrern und Eltern gehen die Ideen des Schulsenators zu weit. Nun zeigt er Kompromissbereitschaft – und benennt Grenzen.
Die Landespressekonferenz im Anschluss an die dienstägliche Sitzung des Senats ist ein Format, das üblicherweise recht festen Regeln folgt. Meist läuft es so: Nach dem Vortrag eines Senatsmitglieds zu einem Thema aus seinem Verantwortungsbereich stellen die Journalisten ihre Fragen. Es ist abhängig vom Hintergrundwissen und der Kreativität der Kolleginnen und Kollegen, ob es gelingt, durch geschicktes Nachsetzen den Regierenden zudem interessante Neuigkeiten zu entlocken – auch zu anderen Themen.
Dass ein Senator oder eine Senatorin von sich aus ein nicht angekündigtes Thema anspricht – noch dazu ein heißes Eisen – ist dabei ausgesprochen ungewöhnlich. Am Dienstag war es so weit. „Ich darf Ihre Fragen vielleicht zum Anlass nehmen, um noch auf einen weiteren Punkt einzugehen“, sagte ein ziemlich entspannt wirkender Schulsenator Ties Rabe (SPD). Es war der vorletzte Schultag vor der großen Zäsur der Sommerferien. „Nach den Ferien geht es auch darum, unsere Bildungspläne so weit voranzubringen, dass sie dann auch eingeführt werden können.“
Schule in Hamburg: Kritik an Rabes Bildungsplänen
Die neuen Bildungspläne also – über kein anderes Thema der Schulpolitik ist in den vergangenen Monaten so heftig und emotional gestritten worden wie über Rabes Entwurf für das Mammutwerk, in dem steht, was und wie allgemein und in jeder einzelnen Klassenstufe gelehrt und gelernt werden soll. Mehr Klausuren, mehr Verbindlichkeit und mehr inhaltliche Vorgaben – vielen Lehrkräften und Eltern gehen Rabes Ideen zu weit. Die zwölf Jahre alten gültigen Bildungspläne hatten die Kompetenzorientierung der Schülerinnen und Schüler statt eines Wissenskanons in den Mittelpunkt gerückt.
Und der Schulsenator setzte Anfang Juni mit einer pointierten Rede vor der Bürgerschaft unter anderem zur Freude am Lernen („Leistung macht glücklich!“) noch einen drauf. Für viele Akteure gerade aus dem linken Bildungsspektrum, denen der Leistungsbegriff immer suspekt war, war das eine pure Provokation. Ob Gewerkschaft, Elternkammer oder Schulleiterverbände: Viele forderten einen Stopp dieser Pläne und einen Neustart unter ganz anderen Vorzeichen.
Rabe geht auf seine Kritiker zu
Dazu wird es zwar nicht kommen, aber Rabe geht auf seine Kritiker zu – das war die Botschaft am Dienstag in der Landespressekonferenz. „Wir haben jetzt ein, wie ich finde, sehr gutes Verfahren gefunden, indem wir die nächsten drei Monate die vielen Stellungnahmen, die eingegangen sind, nutzen, um sie gemeinsam mit den Schulleitern der 376 staatlichen Schulen genauer zu betrachten und den nötigen Anpassungsbedarf der Bildungspläne zu identifizieren“, sagte der beinahe milde wirkende Senator. Er kann auch anders.
Bislang war geplant, dass Rabe und seine Fachleute in der Behörde die rund 250 Stellungnahmen von Parteien, Verbänden, Kammern, Schulen, Fachschaften und Elternräten allein auswerten und entscheiden, welche Kritikpunkte und Anregungen sie in die Bildungspläne aufnehmen und welche nicht. Dass jetzt die Schulleitungen einbezogen werden, die den Rabe-Entwurf zum Teil sehr kritisch sehen, zeigt die Kompromissbereitschaft des Senators. Das neue Verfahren kostet Zeit: Statt im Herbst, wie ursprünglich vorgesehen, werden die überarbeiteten Pläne wohl erst im Dezember vorliegen.
Grünen-Schulpolitikerin: Pläne manifestieren veraltete Lernkultur
Rabe wirkte auch deswegen entspannt, weil ihm die Spitzen der rot-grünen Koalition am Montagabend den Rücken gestärkt hatten. Bei einem Koalitionsausschuss, der einberufen wird, wenn Streitfragen im Bündnis anders nicht zu klären sind, war es auch um die Bildungspläne gegangen. Es war der grüne Koalitionspartner der SPD, von dem Kritik an den Rabe-Entwürfen kam.
Die Grünen-Schulpolitikerin Ivy May Müller etwa hatte gesagt, die Bildungspläne würden „in ihrer Wirkung tatsächlich an vielen Stellen eine veraltete Lernkultur manifestieren, die wenig mit den Herausforderungen unserer Zeit zu tun hat“. Und: Die Grünen-Fraktion hätte ein „grundlegend anderes Verständnis davon, was Schule für jeden Einzelnen und jede Einzelne leisten soll“. Der Parteinachwuchs Grüne Jugend erklärte noch in dieser Woche: „Überfüllte Kerncurricula und veraltetes Leistungsprinzip verhindern gerechte und inklusive Bildungspläne“.
Doch der Koalitionsausschuss einschließlich der grünen Senatoren und der grünen Fraktionsspitze gab dem Schulsenator grünes Licht, den Prozess fortzusetzen. Aber Rabe weiß, dass er den inhaltlichen Bedenken nicht nur bei den Schulpraktikern, sondern auch beim Koalitionspartner von den Grünen in gewissem Umfang Rechnung tragen muss.
Rabe nennt drittes Beispiel für einen Kompromiss
Und so machte er vor den Journalisten deutlich, wie weit seine Kompromissbereitschaft reicht. So werde es Anpassungen hinsichtlich der Stofffülle geben. „Wir haben uns zum Beispiel bei den Kerncurricula der Naturwissenschaften in der Oberstufe sehr eng an den Vorgaben der Kultusministerkonferenz orientiert. Das hat zu großer Stofffülle geführt. Man muss sehen, wie man hier einen vernünftigen Weg geht“, sagte Rabe.
Und auch bei dem zentralen und besonders umstrittenen Thema Leistungsüberprüfung will der SPD-Politiker mit sich reden lassen. „Sicherlich gibt es auch Wege zwischen dem Anspruch, mehr Klausuren zu schreiben, und dem Anspruch, das richtige Maß zu finden, das an den Hamburger Schulen umgesetzt werden kann“, sagte der Senator, um gleich darauf konkret zu werden: Früher hätten die Schülerinnen und Schüler 400 Klausuren und Arbeiten in den Klassen fünf bis 13 schreiben müssen. „Heute sind es 200, von denen ein Viertel durch Referate und Präsentationen ersetzt werden kann. Das war uns zu viel Ersatz“, sagte Rabe.
Was der Senator meinte, aber nicht ausdrücklich sagte: Hier geht es „nur“ um einen quantitativen Streit, bei dem beide Seiten von ihren Maximalvorstellungen abrücken müssen. Die Arithmetik gibt gewissermaßen eine Lösung vor. Im Gespräch mit dem Abendblatt nannte Rabe noch ein drittes Beispiel für einen Kompromiss: In die Präambel der Bildungspläne könnte ein Passus eingefügt werden, in dem die besondere Hamburger Lernkultur – etwa mit der Betonung inklusiver Bildung – stärker als im bisherigen Entwurf herausgearbeitet werde. Rabe hatte zwar schon bei Vorlage der Entwürfe betont, es sei „nichts in Stein gemeißelt“, doch viele hatten nicht geglaubt, dass der meinungsstarke und bisweilen durchaus rechthaberisch wirkende SPD-Politiker dazu in nennenswertem Umfang bereit sein würde.
Schwächere Schüler im Blick haben
Rabe kann sich ein bisschen wie einst Odysseus zwischen Skylla und Charybdis fühlen: auf der einen Seite eine mächtige Schullobby, die sich gegen ein Anziehen der Leistungsschraube an Schulen wendet und besonders die schwächeren Schülerinnen und Schüler im Blick hat. Auf der anderen Seite die Anforderungen der nationalen Bildungsstandards, bei deren Erreichen Hamburg trotz mancher Erfolge immer noch Nachholbedarf hat.
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Dazu gehört, dass sich SPD und Grüne zusammen mit CDU und FDP im Schulfriedensvertrag auf eine Neufassung der Bildungspläne geeinigt haben, die die Einführung von Kerncurricula, verpflichtenden Inhalten und verpflichtendem Fachwissen vorsieht. Zwar hat die Bürgerschaft kein Mitspracherecht bei Bildungsplänen, aber Rabe muss wegen des Schulfriedens politisch Rücksicht nehmen.
„Wir stehen zu unserem Wort. Wir wollen, dass alle Hamburger Schülerinnen und Schüler gut lernen können – auf Bundesliganiveau, so wie es die Kultusministerkonferenz für alle Bundesländer vorgibt“, sagte Rabe. Da war sie dann: die Grenze der Kompromissbereitschaft.