Hamburg. Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks macht sich für die digitale Medizin stark – und ermahnt Krankenhäuser und Pflege-Initiative.

Überfüllte Notaufnahmen, digitale Diagnose, Pflegeinitiative – Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) spricht über die Situation in den Krankenhäusern und Vorschläge zur Entlastung des Personals.

Hamburger Abendblatt: Die Krankenhäuser in Hamburg sind extrem belastet – zuletzt musste eine Notaufnahme im AK St. Georg wegen Personalmangels schließen, Sie kündigten ein deutliches Gespräch mit Asklepios an. Was ist das Ergebnis?

Cornelia Prüfer-Storcks: Wir haben unsere Ansicht sehr deutlich gemacht – und auch Asklepios sieht ein, dass das nicht sein darf. Sie haben uns schriftlich bestätigt, dass immer versucht wird, Personal aus anderen Abteilungen oder Kliniken oder Externe einzusetzen. Das hat in diesem Fall aber alles nicht funktioniert. Es sei eine unglückliche Verkettung von Urlaubszeit und Krankheitsfällen gewesen.

Halten Sie das für glaubwürdig?

Kein Krankenhaus hat ein Interesse daran, seine Notaufnahme abzumelden. Aber wir beobachten das jeden Monat genau. Ich habe mir auch alle Zahlen noch einmal selbst angesehen. Die Notaufnahmen sind in Hamburg 184.000 Stunden im Jahr geöffnet. Und nur in vier Prozent dieses Zeitraumes liegen dabei temporäre Sperrungen vor, fast immer wegen eines hohen Patientenaufkommens. Das ist kein dramatischer Zustand. Betriebsbedingte Sperrungen sind aber dennoch nicht hinnehmbar.

Arztruf 116 117 muss bekannter werden

Hat der neue Arztruf der Kassenärztlichen Vereinigung bereits für Entlastung bei den Notaufnahmen gesorgt?

Die Kassenärztliche Vereinigung meldet eine steigende Inanspruchnahme. Man kann aber noch nicht davon sprechen, dass der Arztruf ausgelastet ist. Wir müssen das Angebot noch bekannter machen. Wir wissen aus internationalen Erfahrungen, dass man mit solchen Beratungsangeboten in bis zu 30 Prozent der Fälle dafür sorgen kann, dass die Patienten anschließend keine kurzfristige ärztliche Behandlung mehr brauchen. Es ist auch ein hervorragender Weg, Eltern von kleinen Kindern viele ihrer Sorgen bereits am Telefon zu nehmen.

Bei einem Drittel der Notfälle handelt es sich nach Studien gar nicht um wirkliche Notfälle. Was halten Sie von Sanktionen?

Gar nichts. Es sind nicht die Patienten, die die richtige Diagnose stellen müssen. Das System muss so sein, dass es die richtigen Strukturen schafft und Anlaufpunkte bietet. Wir sind mit der Situation konfrontiert, dass immer mehr Menschen keinen Hausarzt haben und auch Hausbesuche nicht mehr in dem Umfang vorgenommen werden wie früher. Wir brauchen moderne und flexible Lösungen, um das System effizienter zu machen.

Was schwebt Ihnen da vor?

Es ist wichtig, dass wir die telemedizinischen Möglichkeiten der heutigen Zeit auch konsequent zur Anwendung bringen. Dazu gehört, etwa durch Videosprechstunden Ärzte und Patienten effektiv zusammenzubringen. In diesem Bereich liegt noch sehr viel Potenzial, natürlich besonders für den ländlichen Raum, das wir noch deutlich energischer ausschöpfen sollten. Vielleicht kann die Videosprechstunde auch ein Thema sein, wenn der Arztruf in Hamburg weiterentwickelt wird.

Diagnosen: Vorbild UKE

Am UKE findet etwa eine Diagnoseberatung von Patienten aus Schleswig-Holstein anhand von Fotos statt, die niedergelassene Ärzte über eine Wund-App verschicken.

Das hat Modellcharakter. Es ist nicht möglich, an jeder Stelle im Umland die gleiche Dichte von spezialisierten Ärzten vorzuhalten, wie das etwa am UKE der Fall ist. Wenn dort kurzfristig und auch mithilfe moderner Kommunikation über die Distanz hinweg eine Expertenmeinung eingeholt werden kann und abgestimmt wird, ist das patientenfreundlich und ressourcenschonend.

Wie bewerten Sie die Personalsituation in den Krankenhäusern?

Es ist Fakt, dass die Situation gerade in der Pflege sehr angespannt ist. Es hat in den vergangenen 15 Jahren eine starke Zunahme von Fällen und eine Arbeitsverdichtung gegeben. Beim ärztlichen Personal wurden viele zusätzliche Kräfte eingestellt, was auch damit zusammenhängt, dass Ärzten nach europäischen Vorgaben nicht mehr dieselben Arbeitszeiten zugemutet werden können wie zuvor. Aber den Pflegekräften schien man immer noch mehr Patienten aufbürden zu können. Das führt natürlich zu großer Unzufriedenheit und dazu, dass viele Kräfte ihren Beruf wechseln oder auf Teilzeit gehen.

AK St. Georg: Betriebsrat beklagt Ausnahmezustand

Uns liegt ein Schreiben vom Betriebsrat der Klinik in St. Georg vor, in dem es heißt, das Personal arbeite in einem permanenten Ausnahmezustand. Ihnen dürften diese Vorwürfe nicht neu sein.

Ja, die Betriebsräte bemängeln bestimmte Dinge völlig zu Recht. Sicherlich fühlen auch die Ärzte sich belastet. Aber die Zahlen zeigen, dass die Probleme insbesondere in der Pflege liegen. Wir haben in diesem Bereich wichtige Maßnahmen auf den Weg gebracht: Es ist etwa gelungen, im letzten Entwurf des Pflegepersonalstärkungsgesetzes auf Bundesebene einzubringen, dass wir der Situation in Zukunft praktisch mit Zuckerbrot und Peitsche begegnen.

Was bedeutet das?

Zuckerbrot heißt, dass die Pflege demnächst nicht mehr über die Fallpauschalen bezahlt wird, sondern die Kosten aus den Fallpauschalen ausgegliedert sind. Dadurch werden Pflegekräfte in Krankenhäusern eins zu eins von den Krankenkassen bezahlt, ohne Obergrenze. Das ist ein klarer Anreiz, ausreichendes Personal zu beschäftigen. Peitsche bedeutet, dass wir eine Untergrenze beim Verhältnis von Personal und Patienten einziehen. Wenn die Quote unterschritten wird, muss man einstellen oder es dürfen weniger Patienten versorgt werden, bis das Verhältnis wieder stimmt.

Pflegenotstand: So reagiert Kalifornien

Lässt sich der Pflegenotstand mit diesen Maßnahmen beenden?

In Kalifornien wurde beispielsweise mit den Untergrenzen erreicht, dass wieder mehr Pflegepersonal für den Beruf gewonnen werden konnte. Genau so, wie sich schlechte Arbeitsbedingungen herumsprechen, machen auch Verbesserungen die Runde. Die Pflege ist insgesamt ja kein unbeliebtes oder unspannendes Berufsfeld.

Geht es nicht auch um bessere Bezahlung?

Die Bezahlung ist besser, als das vielleicht der Großteil der Bevölkerung einschätzt. Wenn ein Auszubildender in der Pflege 1000 Euro im Monat bekommt und eine Fachkraft im Krankenhaus 3200 Euro, ist das mehr als in vielen anderen Berufen. Trotzdem kann man nicht sagen, dass es auch bei den finanziellen Anreizen keinen Handlungsbedarf gebe. Hier muss insbesondere die Bezahlung in der Altenpflege zum höheren Niveau in der Krankenpflege aufschließen.

Eine Volksinitiative schlägt weitere Änderungen im bisherigen System vor. Wie sehen Sie das Vorhaben?

Ich halte die vorgebrachten Pläne weder rechtlich noch inhaltlich für tragfähig. Zunächst einmal darf es keine Insellösung geben, bei der in Hamburg andere Regeln gelten als etwa in allen anderen Ländern. Es handelt sich hier schlicht um Bundesgesetzgebung, wir können das nicht regeln. Davon abgesehen hätte es aus meiner Sicht auch fachliche Nachteile, das Personalbemessungssystem nach den Plänen der Initiative umzusetzen. Es würde vermutlich dazu führen, dass täglich Abteilungen in den Krankenhäusern gesperrt werden müssten, weil der Personalschlüssel nicht erreicht ist. Außerdem müssten die Mitarbeiter jeden Morgen die Pflegebedürftigkeit aller Patienten neu einstufen. Diesen enormen Dokumentationsaufwand will ich ihnen nicht zumuten.

Kommt der Volksentscheid vors Verfassungsgericht?

Haben Sie den Eindruck, dass ein Kompromiss möglich ist?

Derzeit ist die Bürgerschaft am Zug. Nach dem, was ich von den Abgeordneten der Regierungsfraktionen gehört habe, ist es sehr mühsam, mit den Vertretern der Initiative in einen konstruktiven Dialog zu treten. Das lässt mich dort wenig hoffnungsvoll sein.

Wird der Streit am Ende vor einem Gericht landen?

Das kann sehr gut sein. Das Vorhaben der Initiative verstößt auch gegen die Regeln der Volksgesetzgebung. Wenn es in unveränderter Form so eingebracht wird, muss das Hamburgische Verfassungsgericht entscheiden.

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version dieses Interviews war aufgrund eines Übermittlungsfehlers von WhatsApp statt von der "Wund-App" im UKE die Rede.