Der frühere Hamburger WissenschaftssenatorJörg Dräger fordert, Schulen müssten sich auf die Vielfalt ihrer Schüler einstellen und Unterricht individualisieren.
Hamburg. Jörg Dräger, der Vorstand der Bertelsmann Stiftung und frühere Hamburger Wissenschaftssenator, hat eine umfassende Reform der Gymnasien gefordert. Die Diskussion um die achtjährige Schulzeit bis zum Abitur oder eine Verlängerung auf neun Jahre, wie sie auch in Hamburg geführt wird, geht aus seiner Sicht am eigentlichen Problem vorbei und wäre ein Fehler. „Die Rolle rückwärts vom acht- zum neunjährigen Gymnasium würde viel Geld und Energie kosten. Die sollte man besser in die Unterrichtsqualität stecken“, sagte er der „Welt am Sonntag“.
Schon bei der Einführung von G8 hätte man sich lieber fragen sollen, wie die Gymnasien mit der wachsenden Vielfalt ihrer Schüler umgehen und sich die Unterrichtskultur verändern müsse, so Dräger. Er ist überzeugt: „Wenn sich das Gymnasium nicht ändert, wird es verlieren.“ Denn die Rahmenbedingungen hätten sich stark geändert. Während früher am Gymnasium eine kleine elitäre Gruppe unterrichtet wurde, wechsle heute die Mehrheit eines Jahrgangs auf diese Schulform, in manchen Hamburger Stadtteilen sogar 70 Prozent. „Damit wird das Gymnasium zur Gesamtschule der Mittelschicht, die Schülerschaft immer vielfältiger, das Leistungsniveau fächert sich zunehmend auf. Darauf sind die Gymnasien aber methodisch noch zu wenig eingestellt,“, sagt Dräger.
Das Gymnasium müsse sich dringend pädagogisch weiterentwickeln und besser auf die wachsende Heterogenität der Schülerschaft eingehen. Die Lehrer müssten lernen, mit der wachsenden Unterschiedlichkeit der Schüler umzugehen und den Unterricht stärker zu individualisieren, sagte Dräger und fordert eine Fortbildungsoffensive. Wenn sich das Lernpensum an einzelnen Schüler ausrichte, werde nicht mehr wie bisher der eine über- und der andere unterfordert – und das werde auch zu weniger Stress für die G8-Gymnasiasten führen.
Zudem müssten sich alle Gymnasien zu echten Ganztagsschulen entwickeln, die den Unterricht tatsächlich anders mit einem Wechsel von Lern- und Entspannungsphasen rhythmisieren. „Bei der Einführung von G8 haben wir damals argumentiert, dass zwölf Jahre Schule im Rest der Welt auch funktioniert. Dabei ist aber übersehen worden, dass es dort Ganztagsschulen gibt. Die westdeutschen Bundesländer haben versucht, trotz Schulzeitverkürzung den Lernstoff unverändert in den Vormittag hineinzuquetschen“, so Dräger. Doch kaum ein Mensch könne acht Stunden hintereinander Neues aufnehmen. Deshalb seien gute Ganztagskonzepte erforderlich, mit einem Angebot von 8 bis 15.30 Uhr, das Hausaufgaben, Entspannungsphasen, Musik, Kultur und Sport einbinde. Natürlich müsse der Lehrplan entrümpelt werden, auch das habe man bei der Schulzeitverkürzung versäumt. Die Kultusministerkonferenz müsse zudem darüber nachdenken, die vorgegebene Zahl von 265 Wochenunterrichtsstunden bis zum Abitur zu flexibilisieren und sich stattdessen an dem zu orientieren, was die Schüler bis zum Abitur lernen müssen.
Eingangstests oder einer Notenschwelle für den Wechsel aufs Gymnasium, die in Hamburg teilweise gefordert werden, erteilte Dräger eine Absage.