Die Entschärfung einer 500-Kilo-Fliegerbombe legt Harburg lahm. Ältere Bewohner dachten an die schmerzhaften Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs.
Harburg. Der alte Mann sitzt zusammengesunken auf einem schmalen Holzstuhl. Eine braune Wolldecke bedeckt die mageren Schultern. Man hat ihn hier hergebracht, ins Foyer der Harburger Friedrich-Ebert-Halle. Innerhalb von wenigen Minuten musste er seine Wohnung räumen. Es musste schnell gehen. Nur eine Wolldecke konnte er sich noch überwerfen. Dann hieß es: raus.
Es ist 14.30 Uhr, Mittwochnachmittag. In der Harburger Innenstadt, hinter dem Rathaus an der Julius-Ludowieg-Straße haben Bauarbeiter eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. Knapp 500 Kilogramm Sprengstoff beinhaltet das Kampfmittel. Bei einer Explosion könnte das Gelände im Umkreis von 300 Metern gefährdet sein. Die Polizisten müssen Häuser mit 2800 Menschen evakuieren. Sie klingeln an jeder Haustür, sie gehen in die Treppenhäuser, sie klopfen an die Türen. Sogar mit Lautsprechern werden die Menschen aufgefordert, ihre Wohnungen zu verlassen. Das Rathaus, das Bezirksamt Harburg und die Agentur für Arbeit werden geschlossen. Die Mitarbeiter dürfen nach Hause gehen.
Der alte Mann aber hat Angst. Werner Utermöhlen ist 96 Jahre alt. Er lebt in der Hastedtstraße, 200 Meter vom Bombenfundort entfernt. Er kann nur noch sehr langsam gehen. Utermöhlen wird mit einem Krankenwagen in die Notunterkunft am Gymnasium gebracht. "Dass ich so etwas noch mal erlebe", sagt er. Seine Augen sind trüb. Sie haben viel gesehen. Utermöhlen weiß, was Fliegerbomben anrichten können. An diesem Nachmittag ist es nicht die Bombenentschärfung, die ihm zu schaffen macht, sondern die Erinnerung. An die Bombennächte im Jahr 1943, an die Enge im Keller, an die hoffnungslosen Gesichter der Menschen im Bunker. Werner Utermöhlen war damals 29 Jahre alt. Eine Fliegerbombe zerstörte sein Elternhaus in der Bremer Straße. "Von einer auf die andere Sekunde hatten wir nichts mehr", sagt er.
Viele der Menschen sind alt und haben den Krieg noch erlebt
Es sind die Erinnerungen an eine Zeit voller Angst, Ungewissheit und Verlusten, die aus den Gesichtern der Evakuierten sprechen. Denn fast alle der knapp 120 betreuten Personen im Foyer der Eberthalle sind sehr alt. Sie haben den Krieg erlebt. Zum Lachen ist ihnen an diesem Nachmittag, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen der Polizei, nicht zumute.
Diese interessieren Wolfgang Noormann nun ganz und gar nicht. Noormann ist Schuster, so Mitte 50, und er hat gut zu tun. So einer wie er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht von einem Blindgänger. Noch um 15 Uhr steht er in seiner kleinen Werkstatt vom Schuhschnelldienst in der Bremer Straße 22. Mit aller Seelenruhe repariert er einen Stiefel, während draußen die Polizei mit Blaulicht die Straßen sperrt. Noormanns Werkstatt liegt im unmittelbaren Gefahrenbereich. Er muss hier weg. "Ich lass mich hier doch nicht vertreiben", sagt er. "Die Bomben explodieren doch so gut wie nie. Das wird hier doch alles aufgebauscht." Die Einsatzkräfte der Polizei haben strikte Anordnung. Mit Verweigerern wie Noormann greifen sie hart durch. "Wenn Sie hier nicht in 15 Minuten raus sind, werden wir dafür sorgen", sagt einer der Polizisten.
Andere Geschäftsinhaber sind gefügiger. Karin Neuhaus, die seit 44 Jahren ein Blumengeschäft in der Bremer Straße betreibt, nimmt die Evakuierung gelassen. Um ihr Geschäft macht sie sich keine Sorgen. Aber ihren neuen Golf, den will sie doch lieber schnell in Sicherheit bringen. Um halb vier fährt sie als eine der Letzten unter den rot-weißen Absperrbändern der Polizei raus aus der Gefahrenzone und rein in den Stau. Denn aufgrund der Sperrungen kommt es auf allen Straßen rund um die Harburger Innenstadt zu erheblichen Verkehrsbehinderungen. Auch die S-Bahnen stehen still. Genauso wie das Leben innerhalb des Sicherheitsbereichs. Statt klappernder Schuhe, Autolärm und Stimmengewirr bestimmt allein der Wind die Geräuschkulisse rund um das Rathaus.
Es geht darum, die Leute bei Laune zu halten, sagen die Helfer
In der Notunterkunft kümmern sich derweil 50 Mitarbeiter um die Menschen. Sie bringen Wolldecken und Getränke, verteilen Schokoriegel und Spielzeug für die Kinder. "Es geht darum, die Leute bei Laune zu halten", sagt DRK-Geschäftsführer Harald Krüger. Er hofft, dass es zügig vorangeht. "Die Leute sollten hier nicht zu lange sitzen." Während die Polizei räumt, denkt Krüger über psychologische Hilfe für die Betroffenen nach. "Vielleicht kochen wir nachher einen Tee. Das hilft den Menschen. Sie müssen sich in die Schlange stellen, haben was in der Hand. Das beruhigt."
Doch so weit kommt es nicht mehr. Um 17.44 Uhr meldet der Kampfmittelräumdienst: "Bombe entschärft." Sprengmeister Burkhardt Mantsch hat die beiden Aufschlagzünder unschädlich gemacht. Die Bombe, die einen Stadtteil in Aufregung versetzt hat, wird in einen Bunker gebracht. DRK-Chef Harald Krüger und seine 50 Mitarbeiter bringen die Menschen zurück in ihre Wohnungen. Werner Utermöhlen ist einer der Ersten.
Zeitgleich, um 17.45 Uhr, erklingt wie an jedem Abend in der Nikolaikirche an der Willy-Brandt-Straße das Glockenspiel der königlich niederländischen Glockengießerei Eijsbouts. Von der Kirche existieren heute nur noch Turm und Mauerreste. Ihr prächtiges Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg durch Fliegerbomben zerstört.