Buchholz/Buxtehude. Mehr als 30 Personen erheben schwere Vorwürfe gegen einen Handballtrainer. Buchholz-Rosengarten und Buxtehuder SV fordern Konsequenzen.
Kurz vor Beginn der Frauen-Europameisterschaft am 4. November sorgt das Ausmaß der Vorwürfe gegen den früheren Bundesligatrainer André Fuhr für mächtig Wirbel in der Handballszene. Mehr als 30 Personen haben sich mittlerweile mit Erfahrungsberichten über die Trainingsmethoden des ehemaligen Trainers von Borussia Dortmund an die Beratungsstelle „Anlauf gegen Gewalt“ gewandt. „Darunter waren Betroffene und Umstehende, die entsprechende Vorfälle beobachtet haben“, teilte Athleten Deutschland mit.
Zwei Ex-Spielerinnen der Handball-Luchse von Psychoterror betroffen
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte in seiner Ausgabe vom 22. Oktober unter der Überschrift „Weg von diesem Teufel“ berichtet, wie zahlreiche Spielerinnen jahrelang unter dem Psychoterror des Trainers André Fuhr gelitten hätten. Im „Spiegel“-Artikel werden mit Anja Ernsberger und Kim Berndt auch zwei ehemalige Spielerinnen der Handball-Luchse Buchholz 08-Rosengarten zitiert, die mehrere Jahre unter Fuhr bei der HSG Blomberg-Lippe trainiert und gespielt hatten.
Die 32 Jahre alte Kim Berndt, die ihre Karriere im Sommer 2022 überraschend beendete, lässt sich im „Spiegel“ im Gegensatz zu anderen ehemaligen Fuhr-Schützlingen namentlich zitieren, ihre Aussagen sind drastisch und verstörend.
„Erwachsener Mann mit hochrotem Kopf stand zehn Zentimeter vor mir und schrie mich an“
„‚Halt die Fresse!‘ Als ich diesen Satz das erste Mal hörte, war ich 17. Ein erwachsener Mann mit hochrotem Kopf stand zehn Zentimeter vor mir und schrie mich mit Wut in den Augen an. Schlimmer noch war die Art und Weise, wie er demütigte, terrorisierte, wie er dich mit kleinen Kommentaren entmutigte, kleinhielt und dir jegliches Selbstbewusstsein raubte. Dabei hatte er es vor allem auf die jungen, unerfahrenen Spielerinnen abgesehen, weil die sich schlechter wehren konnten.“
Kurz nach Veröffentlichung dieses Artikels positionierten sich mit dem Buxtehuder SV und den Handball-Luchsen zwei Vereine aus der Region zu der Thematik. „Es ist für Außenstehende schwierig bis unmöglich, die Vorwürfe im Einzelnen zu beurteilen. Aber allein die Tatsachen, dass Spielerinnen in den letzten beiden Jahren den BVB in großer Zahl verlassen haben und der Verein Trainer André Fuhr suspendiert hat, sind deutliche Indizien für eklatantes Fehlverhalten“, sagt Peter Prior, langjähriger Manager des Buxtehuder SV.
Neben dem Trainer haben weitere Personen im Verein eine Fürsorgepflicht
„Spätestens der ,Spiegel‘-Bericht macht deutlich, dass die Causa André Fuhr nicht einfach zu den Akten gelegt werden darf. Der Deutsche Handball-Bund (DHB), die Handball-Bundesliga Frauen (HBF) und ihre Vereine werden sich sehr ernsthaft Gedanken machen müssen, welche Lehren und welche möglichen Konsequenzen aus diesem Fall zu ziehen sind“, so Prior weiter.
Für den BSV-Manager und -Geschäftsführer ergeben sich viele Fragen, unter anderem diese: „Neben dem Trainer gibt es in jedem Verein weitere Personen, die eine Fürsorgepflicht gegenüber Spielerinnen haben. In diesem Fall müssen sich die Verantwortlichen in Dortmund, Metzingen und Blomberg fragen, ob sie ihrer Verantwortung gegenüber den Spielerinnen gerecht geworden sind. Das Gleiche gilt für den DHB.“
In der Wirtschaft nicht unüblich: Psychologen coachen Führungskräfte
Auch bringt Prior die Möglichkeit eines Coachings von Trainern durch Psychologen ins Gespräch, um ihm oder ihr damit Hilfe und Unterstützung zu geben. Dieses Coaching ist in der freien Wirtschaft heutzutage nicht unüblich. Der Trainerjob sei weit über die sportfachliche Ebene hinaus extrem komplex und anspruchsvoll. Andere Adressaten von Fragen sind die Berater der betroffenen Spielerinnen. „Auch diese müssen sich hinterfragen, ob sie sich nicht mehr und nachhaltiger für die Interessen ihrer Spielerinnen hätten einsetzen sollen“, so Peter Prior weiter. Und: „Kann in einem freien Land wie Deutschland nicht auch von den Spielerinnen einer Mannschaft, zumindest aber von gestandenen (National-)Spielerinnen, in solchen Fällen mehr solidarisches Verhalten erwartet werden?“
„Luchse“ wünschen geschädigten Spielerinnen einen Weg, das Erlebte zu verarbeiten
Die Handball-Luchse äußern sich nicht nur deshalb, weil mit Anja Ernsberger und Kim Berndt zwei ehemalige Spielerinnen im „Spiegel“-Artikel zu Wort kommen. „Wir unterstützen die Äußerungen und den gewählten Weg der geschädigten Spielerinnen und wünschen ihnen einen Weg, das Erlebte für sich zu verarbeiten. Da wir uns einen guten Weg in die Zukunft auch für alle weiteren beteiligten Personen, Vereine und Verbände wünschen, erwarten wir von ihnen, wie von uns selbst, eine Selbstreflektion, die den eigenen Anteil ins Bewusstsein rückt, herausstellt und damit den Weg für einen anderen Umgang mit der Thematik frei macht“, heißt es in der Stellungnahme aus Buchholz. Sich selbst in die Tasche zu lügen oder Schuld von sich zu weisen, dürfe es nicht geben.
„Üblicherweise ziehen derartige Anstöße Beschwichtigungen, Relativierungen und das Abschieben von Verantwortlichkeiten nach sich, um damit vermeintlich gesichtswahrend und schadlos in den Alltag überzugehen. Entsprechende Reflexe deuten sich im ,Spiegel’-Artikel bereits an. Wir sehen dies als falschen Weg an und sind selbstverständlich zu einem Diskurs, zur Mitwirkung an einer Aufarbeitung und einer Gestaltung für die Zukunft bereit. Die Sachverhalte und Schilderungen müssen Gehör und Reaktionen finden“, teilte der Zweitligist weiter mit.
Nationalspielerinnen Zschocke und Berger brachten Ball ins Rollen
Mitte September hatten die Nationalspielerinnen Mia Zschocke und Amelie Berger mit ihrer fristlosen Kündigung beim deutschen Vizemeister Borussia Dortmund den Fall öffentlich gemacht. Der Verein trennte sich kurz darauf von André Fuhr, wies aber darauf hin, dass dies „ausdrücklich nicht mit einer Vorverurteilung verbunden“ sei. Neben seiner Vereinstätigkeit (2002 bis 2018 Blomberg, eine Saison Metzingen, 2019 bis 2022 Dortmund) war der 51-Jährige seit 2019 auf Honorarbasis auch Trainer der weiblichen U-20-Nationalmannschaft. Wegen der aufkommenden Diskussionen verlängerte der DHB den zum 31. August 2022 auslaufenden Vertrag nicht.
Der DHB äußerte sich wie folgt: „Die in den vergangenen Tagen veröffentlichten Vorwürfe gegen den Handballtrainer André Fuhr stehen in keiner Weise im Einklang mit den Werten des Handballsports. Der Deutsche Handballbund fühlt mit den betroffenen Spielerinnen und nimmt die Vorwürfe sehr ernst, hinterfragt das eigene Vorgehen kritisch und überprüft seine Prozesse.“ Am Mittwoch teilte das DHB-Präsidium mit, eine unabhängige Kommission einsetzen zu wollen.
Deutscher Handballbund will unabhängige Kommission einsetzen
Auch die HBF, der Zusammenschluss aller Erst- und Zweitligavereine, gab eine Stellungnahme ab. „Die Betroffenheit bei uns und unseren Mitgliedern ist natürlich groß. Wir müssen und werden gemeinsam aktiv daran arbeiten, das Wohl der Spielerinnen bestmöglich und dauerhaft zu schützen“, sagte Andreas Thiel als HBF-Vorstandsvorsitzender.
Mit Emily Bölk äußerte sich schließlich auch eine Spielerin, die beim Buxtehuder SV groß geworden ist und seit mittlerweile zwei Jahren in der ungarischen Hauptstadt Budapest spielt. Die Co-Kapitänin der Nationalmannschaft appellierte, die Vorfälle intensiv aufzuarbeiten. Es sei wichtig, für das Thema zu sensibilisieren, „dass es solche Probleme gibt. Das Wichtigste wird sein, dass die Betroffenen zu Wort kommen und ihre Wünsche für die Zukunft äußern können“, sagte die 24-Jährige.
Anlauf gegen Gewalt – unabhängige Beratungsstelle von Athleten Deutschland
Anlauf gegen Gewalt ist eine Initiative von Athleten Deutschland für Leistungssportlerinnen und -sportler, die psychische, physische und/oder sexualisierte Gewalt erfahren oder in den Vergangenheit erfahren haben. Seit dem Start im Mai 2022 bearbeitet die Anlaufstelle teilweise mehrere Kontaktanfragen pro Woche.
Neben telefonischer oder schriftlicher Beratung ist bei Bedarf auch psychotherapeutische oder rechtliche Erstberatung möglich – auch anonym. Auch Angehörige und Umstehende können sich bei Gewalt- und Missbrauchserfahrungen im Sportkontext an die unabhängige Beratungsstelle wenden.
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„Athleten Deutschland e.V.“ wurde 2017 gegründet, um den für Deutschland startenden Athletinnen und Athleten erstmals ein echtes Mitspracherecht zu ermöglichen. Der Verein setzt sich für grundlegende Veränderungen im deutschen und internationalen Sportsystem ein. Der Schutz, die Perspektive und die effektive Mitbestimmung durch Athletinnen und Athleten stehen dabei immer im Mittelpunkt.