Hausbruch. Autistischer Junge hat kaum Gefahrenbewusstsein. Mutter wartete tagelang auf Infos. Was die Schulbehörde zu den Vorwürfen sagt.
- An einer Förderschule in Hausbruch hat es ein neunjähriger Autist zum dritten Mal geschafft, unbemerkt das Schulgelände zu verlassen
- Der Fall erinnert an den dramatischen Tod eines zehnjährigen Jungen im März 2023, der wie Marlon ausgebüxt war und später in der Elbe ertrank
- Der Fall wirft erneut Fragen zur Sicherheit von Schülerinnen und Schülern an Förderschulen im Hamburger Süden auf
Marlon ist neun Jahre alt, Autist und besucht die Schule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ Nymphenweg, Standort Hausbruch. Marlon ist auch ein leidenschaftlicher Ausreißer. Schon zum dritten Mal in diesem Schuljahr schaffte er es, Lehrer und Aufsichtspersonal auszutricksen und sich vom Schulgelände zu entfernen.
Das ist für kein Kind ungefährlich und für Kinder wie ihn, die in ihrer eigenen Welt leben, sehr risikoreich. Marlons Mutter hatte deshalb Fragen an die Schule. Schließlich geht es um ihr Vertrauen in die Sicherheit ihres Kindes. Anders, als bei den ersten zwei Malen, musste sie diesmal aber länger auf die Antworten warten. Das könnte auch mit einem Abendblatt-Artikel aus dem Februar zusammenhängen, vermutet die Mutter.
Neunjähriger Autist verlässt Schulgelände am Tag, als Arians Tod vermeldet wird
Wann wurde das Verschwinden bemerkt, wann die Polizei informiert, wann wurde Marlon wiedergefunden? Wer hatte Aufsicht, und wer informierte die Polizei? Wurde alles getan, um das Ausreißen zu verhindern? „Diese Fragen stellt man sich als Mutter natürlich, und man möchte sie sich nicht lange stellen müssen“, sagt Marlons Mutter Claudia Hoppe, „zumal genau an diesem Tag auch der Tod des sechsjährigen Arian gemeldet wurde, der auch Autist war und von zu Hause abgehauen ist.“
Die beiden Male zuvor hatte die Schule ihr auch immer schnell ein Protokoll zukommen lassen, das genau diese Fragen beantwortet. Diesmal dauerte es. Die Schulleitung wollte das Protokoll zunächst mit der Schulbehörde abstimmen. „Ich vermute, dass es daran liegt, dass ich nach Marlons zweitem Verschwinden an die Presse gegangen bin“, sagt Claudia Hoppe, „und dass die Schulleitung sich erst einmal rückversichern wollte oder sogar sollte.“
Fast eine Woche vergeht, bevor Marlons Mutter Informationen zum Vorfall bekommt
Am Dienstag, fast eine Woche nach dem Vorfall, hat Claudia Hoppe nun die E-Mail von der Schule erhalten. Und eigentlich hatte man sie sogar auf Freitag vertröstet.
Fast eine Woche ohne Informationen zu einem Vorfall, der für Eltern den absoluten Albtraum bedeutet – für die Schulbehörde fällt das offenbar in den Rahmen „zeitnah“, wie jetzt aus einem schriftlichen Statement auf Abendblatt-Anfrage hervorgeht. Der Tonfall der Sätze ist sachlich gehalten, ein Wort des Bedauerns findet man darin nicht. „Die Schulen sind grundsätzlich angewiesen, zeitnah die Sorgeberechtigten über einen Vorfall sowie die bereits veranlassten bzw. weiter zu veranlassenden Schritte zu informieren“, heißt es von Sprecher Peter Albrecht.
Außerdem müsse eine schriftliche Dokumentation des Vorfalls erstellt werden. Beides sei laut Schulaufsicht im vorliegenden Fall durch die Schulleitung regelkonform erfolgt.
Marlon gelangte bis zur S-Bahn-Station Neuwiedenthal
Nachdem Marlon die ersten beiden Male durch die offene, weil nicht vorhandene, Klassenraumtür in den Flur und dann über den Notausgang aus dem Schulgebäude gelangt war, entfernte er sich diesmal am Ende der Pause über den Zaun. Er gelangte bis zur S-Bahn-Station Neuwiedenthal, wo Polizisten des PK 47 ihn aufgriffen und zur Schule zurückbrachten.
Beim ersten Mal war er in einem nahen Hochhaus die Treppe bis in den achten Stock hochgegangen, beim zweiten Mal hatte er schon die viel befahrene Cuxhavener Straße überquert.
Aufpasser, Peilsender, neue Türen: Die Schule tut etwas
Es ist nicht so, dass die Schule nicht reagieren würde. Die Klassenräume haben mittlerweile richtige Türen. Marlon und einige andere ausflugslustige Kinder dort haben mittlerweile jeweils einen persönlichen Aufpasser, und es gibt Peilsender, die die Kinder bei sich haben sollen. Die Zäune sind mit einer Sichtschutzplane versehen, damit die Kinder nicht zu vielen Reizen von außen ausgesetzt sind, und damit es schwieriger ist, an ihnen hochzuklettern.
„Die Sender sind längst beim Spielen verschwunden“, sagt Claudia Hoppe. „Und mit den kleinen Kinderfüßen schaffen es Marlon und andere auch immer noch, genug Halt im Zaun zu finden, um darüberzuklettern.“
Marlons Verschwinden fiel in Neugraben schnell auf, aber nicht schnell genug
Lehrer und Aufpasser, die Kletterversuche bemerken, haben dann einen Nachteil: Mit ihren großen Füßen sind die Zäune nicht zu überwinden, und sie müssen zum nächsten Zauntor, um ein Kind zu verfolgen. Zumindest Marlon ist sehr schnell und wendig, wenn er will. Und auch eine Aufsichtsperson kann nicht die ganze Zeit hundertprozentig aufmerksam sein.
Marlons Aufpasser musste in dieser Pause in eine Besprechung und hatte die Aufsicht über den Jungen an eine Kollegin übergeben. Die musste kurz einen Schülerstreit schlichten – und schon war Marlon weg. Das fiel sehr schnell auf, aber nicht schnell genug, um ihn gleich wiederzufinden.
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„Daran sieht man, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht gibt“, sagt Claudia Hoppe, „und dann macht man sich wieder Gedanken, ob man sein Kind noch in die Schule schicken kann, obwohl diese Gedanken abwegig sind, denn es besteht ja aus guten Gründen Schulpflicht, und man müsste den Beruf aufgeben. Aber deshalb ist es wichtig, dass diese bohrenden Fragen, die man hat, schnell geklärt werden. In dieser Hinsicht bin ich gerade nicht gerade zufrieden!“