Harburg. Als 2015 die ersten Flüchtlinge eintrafen, begriff Muthana Al-Temimi ihr Potenzial. Bei seinem Engagement ist er bis heute geblieben.
- An der Technischen Universität Hamburg (TUHH) sind rund 7000 Studierende eingeschrieben (Stand 2022)
- Davon ist rund ein Drittel weiblich – und rund ein Fünftel internationaler Herkunft
- Für Menschen mit Fluchthintergrund engagieren sich viele Mitarbeitende ehrenamtlich – einer von ihnen ist Muthana Al-Temimi
Als er im Oktober 1996 als 26-Jähriger mit seiner Frau Isra Al-Hasba aus dem Irak nach Deutschland kam, war Muthana Al-Temimi bereits Ingenieur der Elektrotechnik. „Ich hatte meinen Bachelor und wollte weiterstudieren. Das war in Bagdad aufgrund der Sanktionen von den USA und Europa kaum noch möglich: Alles, was ein Wissenstransfer sein könnte, wurde nicht ins Land gelassen. Wir hatten keine Fachbücher, nichts.“ Nicht geflüchtet, aber doch aus der Heimat getrieben, machte Al-Temimi an der Technischen Universität Hamburg (TUHH) seinen Weg. Seit 2015 hilft er dort Geflüchteten. Bis heute.
Nachdem er die Landessprache erlernt hatte, startete der Iraker den Master-Studiengang Informatik-Ingenieurwesen an der TUHH. „Da geht es nicht nur ums Programmieren, sondern auch um die Hardware“, beschreibt er sein Fach. Im November 2001 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter der TUHH. Heute leitet er im Rechenzentrum der Universität den IT-Service für den Bereich Lehre und Studium mit 14 Mitarbeitern.
Als 2015 die ersten Flüchtlinge kamen, bot Al-Temimi gleich Hilfe an: „Meine Muttersprache ist Arabisch“
2015 entstand auf dem Schwarzenberg gegenüber dem Hauptgebäude der TUHH das erste Flüchtlingscamp. Die damalige TU-Pressesprecherin Jutta Werner und einige Mitstreiter beschlossen, den Flüchtlingen zu helfen und gründeten das Projekt TU Hamburg Integrativ.
Sie starteten Deutsch- und Integrationskurse, denn damals fehlte die heutige behördliche Infrastruktur. „Viele Ausländer liefen hier durch die Gänge, Menschen aus Syrien, Palästina, Libyen, Irak, Iran, Afghanistan. Ich fragte mich: Was wollen die alle hier? Dann habe ich vom Projekt erfahren, bin zu Jutta gegangen und habe gesagt: Ich kann helfen, meine Muttersprache ist arabisch“, sagt Al-Temimi.
„Wir haben uns um Einzelfälle gekümmert, aber auch ganzen Familien geholfen“
Auch Katja Biewendt bot ihre Hilfe an. „Ich habe von 2016 bis 2021 Deutschkurse gegeben, bis jeder versorgt war mit dem Zertifikat B1“, sagt sie. Insgesamt seien es zwölf Kurse mit jeweils 25 Teilnehmenden gewesen. „Wir haben uns um Einzelfälle gekümmert, aber auch ganzen Familien geholfen, sich zurechtzufinden. Haben Übersetzungsarbeit geleistet und bei Behördenkontakten unterstützt“, ergänzt Al-Temimi. Seit 2018, als Jutta Werner in Rente ging, leiten die beiden das Projekt TU Hamburg Integrativ.
Rund 40 Flüchtlinge sind an der TUHH zum Studium zugelassen worden
Der Höhepunkt ihrer Arbeit mit Geflüchteten sei vorbei, sagen beide, aber sie begleiten weiterhin viele Schützlinge. „Ich hatte sie damals auch zu mir nach Hause eingeladen“, sagt Al-Temini, „inzwischen besuche ich sie in ihren Wohnungen, um zu sehen, wie sie leben. Wenn ich mich mal nicht melde, kommen sofort besorgte Anrufe, was denn los sei.“
Rund 40 Flüchtlinge seien an der TUHH als Studierende zugelassen worden. Einige haben ihren Bachelor-Abschluss absolviert und sind gegangen, viele sind jedoch noch am Studieren. „Wir begleiten sie durch ihr Studium“, sagt der engagierte Informatiker.
Im Seminar Soziales Lernen lehrt Al-Temimi Flüchtlingsarbeit
Er sei heute vor allem Laufbahnberater, sagt der Vater von drei erwachsenen Töchtern, der in Bad Oldesloe wohnt. Al-Temimi arbeitet aber auch als Seminarleiter: „Wir starten in jedem Semester das Seminar Social Learning, in dem es auch um Flüchtlingsarbeit geht. Die Studierenden der TUHH müssen ein Pensum von 50 Stunden leisten und erhalten dafür zwei Credit Points.“
Die Leistungspunkte werden für einen Theorie- und einen Praxisteil vergeben. Dabei können sich die Bachelor-Studenten in unterschiedlichen Bereichen engagieren: für geflüchtete Menschen, in der Obdachlosenhilfe, im Natur- und Umweltschutz und beim Erhalt historischer Kulturgüter. Rund 30 Studierende nehmen aktuell pro Semester an dem Seminar teil, „es waren auch schon mal 50“, sagt Al-Temimi.
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Für das soziale Engagement von TU Hamburg Integrativ erhielten die Organisatoren 2019 den Harburger Bürgerpreis. „Das war für uns eine große Überraschung“, sagt Katja Biewendt rückblickend. Inzwischen habe sich die Lage beruhigt, zumindest was der Hilfsbedarf im Umfeld der TUHH angeht.
Zwar werden seit dem Frühjahr 2023 wieder Flüchtlinge, vor allem afrikanischer Herkunft, auf dem Schwarzenberg untergebracht. Doch gibt es kaum Kontakt zu ihnen. Al-Temimi: „2015 kamen aus Syrien und anderen Ländern viele junge Männer nach Deutschland. Die interessierten sich besonders für Ingenieurwissenschaften.“
Al-Temimi zog mit der Familie nach Bad Oldesloe – für bessere Startbedingungen
Als der Bedarf am größten war, hatte Al-Temimi auch seine Familie zum Helfen eingespannt. Sein soziales Engagement färbte ab: Seine Frau arbeitet heute im Jobcenter in Lübeck und hilft dort Flüchtlingen. Seine drei Töchter im Alter von 28, 22 und 21 Jahren widmen sich der Medizin. Die älteste arbeitet als Ärztin, die mittlere studiert Medizin, die jüngste Pharmazie.
Er sei mit der Familie nach Bad Oldesloe gezogen, um seinen Töchtern die bestmöglichen Startbedingungen zu verschaffen, so Al-Temimi. „Dort gibt es an den Schulen nur wenige Ausländer. Das hilft bei der Integration“, sagt der Iraker, der in Harburg so vielen Migranten bei der Integration geholfen hat und weiterhin hilft.