Hamburg. Experten raten zu Ausbau von Lehre und Forschung an Hochschulen – sonst könnten Firmen abwandern. Exzellenzstatus in Gefahr.

Wenn Hamburg es nicht riskieren will, dass Unternehmen einige Arbeitsbereiche in andere Städte verlagern oder ganz abwandern, sollte die Hansestadt massiv in den Ausbau der Informatik an Hamburgs staatlichen Hochschulen investieren – das rät eine von der Wissenschaftsbehörde eingesetzte Expertenkommission. Nötig sei ein „zusätzliches erhebliches finanzielles Engagement des Landes“, um auch zu verhindern, dass der Exzellenzstatus der Uni Hamburg in Gefahr gerate, schreibt das Gremium. Hamburg fehle es in der Informatik an einem Alleinstellungsmerkmal. Die Stadt sollte neue Lehrstühle für maschinelles Lernen und Datenwissenschaft hochkarätig besetzen, „Brückenprofessuren“ zu anderen Disziplinen einrichten und erheblich mehr Informatik-Studienplätze schaffen.

„Hamburg spielt mit der Informatik zwar schon in der ersten Liga, rangiert dort jedoch noch in der Tabellenmitte – allerdings mit der Tendenz, nach oben zu klettern“, sagte Wolfgang Wahlster, Chefberater des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz. Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) kündigte an, sie wolle „im Schulterschluss mit den Hochschulen eine Informatik-Offensive starten.

„Die Ergebnisse des Gutachtens bestärken uns in dem dringenden Appell, den Informatik- Standort endlich auf ein Niveau mit München und Berlin weiterzuentwickeln“, sagte Raphael Vaino, Vorsitzender des IT-Executive Clubs in Hamburg. Es gelte, einen großen Bedarf an IT-Fachkräften und Top-Talenten zu decken, „um in unserer Metropolregion nicht weiter zurückzufallen und Arbeitsplätze dauerhaft an andere Regionen zu verlieren“.

Informatiker-Mangel bedroht Hamburgs Wirtschaft

Als Wissenschaftsstandort ist die Hansestadt in den vergangenen Jahren erheblich vorangekommen; am deutlichsten zeigt das der Exzellenztitel für die Uni Hamburg. Doch trotz vieler Fortschritte klaffen Wunsch und Wirklichkeit stellenweise immer noch weit auseinander.

Schon Anfang 2017 hatte der rot-grüne Senat angekündigt, Hamburg solle ein „Top-Informatikstandort“ werden. Heute, sechs Jahre später, gehöre Hamburg mit Blick auf Studium, Forschung und eingeworbene Drittmittel nicht zu den fünf wichtigsten deutschen Informatik-Standorten, heißt es in einem von der Stadt beauftragten Gutachten, das von einer achtköpfigen Expertengruppe erstellt wurde. Deren Vorsitzender Wolfgang Wahlster sagt: „Anders als beim Fußball spielt Hamburg mit der Informatik zwar schon in der ersten Liga, rangiert dort jedoch noch in der Tabellenmitte – allerdings mit der Tendenz, nach oben zu klettern.“

Experten: Empfehlungen können nicht durch "Umpriorisierung" umgesetzt werden

Wahlster (70), ausgezeichnet mit dem Zukunftspreis des Bundespräsidenten, war Gründungsdirektor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz und ist heute dessen Chefberater. Ihm zufolge bilden München, Karlsruhe, Saarbrücken und Aachen aktuell die Top Vier; dahinter wetteifern Kaiserslautern, Darmstadt und Oldenburg miteinander.

In Hamburg habe sich mit der 2017 gestarteten Initiative „ahoi.digital“ der Austausch und der Zusammenhalt zwischen Uni Hamburg, TU Hamburg, HAW Hamburg und HafenCity Universität erheblich verbessert, sagt Wahlster. Es gebe bei Berufungskommissionen etwa wechselseitige Besetzungen aus den unterschiedlichen Hochschulen, Lehrpläne werden aufeinander abgestimmt und Prüfungsleistungen vermehrt wechselseitig anerkannt. „Wir waren beeindruckt, wie gut die Informatiken aller Hamburger Hochschulen zusammenarbeiten“, sagt Wahlster. Mit Blick auf die erreichten Fortschritte sei es gut möglich, „dass es Hamburg innerhalb der kommenden fünf Jahre gelingt, im Bundesvergleich wieder einen der Spitzenplätze in der Informatik zu belegen“. Wahlster spricht von „wieder“, weil Hamburg früher schon einmal mal spitze gewesen sei – dazu später mehr.

Die von ihm geführte Kommission schreibt, ihre Empfehlungen für Hamburg könnten keineswegs durch eine „Umpriorisierung“ aus der bestehenden Informatik bzw. allein aus den Hochschulen heraus umgesetzt werden, sondern erforderten ein „zusätzliches erhebliches finanzielles Engagement des Landes“. Daneben sollten „Beteiligungsmöglichkeiten Dritter, insbesondere auch der Wirtschaft, berücksichtigt werden“.

Nur fünf von dreizehn Berufungsverfahren an der Uni erfolgreich beendet

Zur Erinnerung: Anfang 2017 hatte Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) erklärt, ahoi.digital biete die Chance, „Talente zu gewinnen“. Das Projekt könne eine Gesamtfördervolumen von rund 33 Millionen Euro erreichen, geplant seien 35 neue Professuren und bis zu 1.500 zusätzliche Informatik-Studienplätze. Tatsächlich geschaffen wurden laut Wissenschaftsbehörde bis Herbst 2022 aber nur 16 Professuren an vier Hochschulen. Insbesondere die Universität Hamburg hatte mehr erwartet; etliche Lehrende zeigten sich frustriert.

In dem Gutachten der Wahlster-Kommission heißt es, dass laut dem Selbstbericht von ahoi.digital an der Uni in vier Fällen Berufungsverfahren „im fortgeschrittenen Stadium eingestellt wurden und insgesamt nur fünf von insgesamt dreizehn Verfahren erfolgreich beendet wurden“. Die Wissenschaftsbehörde hatte 2019 und 2020 erklärt, neue Berufungen seien „herausfordernd“ wegen der „bundesweit starken Nachfrage“ nach Lehrenden in der Informatik.

Wolfgang Wahlster sagt: Hamburg könne es nicht nur gelingen, zu München & Co aufzuschließen, vielmehr müsse dies der Hansestadt möglichst gelingen, aus zwei Gründen. Erstens, um den Bedarf an IT-Fachkräften in Hamburg und Norddeutschland zu decken. „Wenn Unternehmen feststellen, dass sie in Hamburg nicht genügend Informatiker auf allen Niveaus bekommen, von Bachelor-Absolventen bis hin zu Promovierten, besteht die Gefahr, dass Firmen bestimmte Arbeitsbereiche in andere Städte verlagern oder ganz abwandern und neue Firmenansiedlungen nicht realisiert werden.“

Hamburg braucht erheblichen Zuwachs an Informatik-Studienplätzen

Hamburg brauche einen erheblichen Zuwachs an Informatik-Studienplätzen. „Es ist schon überraschend, dass Hamburg es mit der geballten Kraft an Hochschulen bislang nicht geschafft hat, nur annähernd genügend Nachwuchs-IT-Kräfte auszubilden“, sagt Wahlster. Es sei „sicherlich nicht nützlich“ gewesen, dass die Universität Hamburg beim Ranking des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) nicht mehr mitgemacht habe. Denn auch daran orientierten sich Studieninteressierte sowie Eltern und beratende Lehrer. „Man muss sich dem Vergleich stellen“, sagt Wahlster. Die Kommission begrüßt deshalb die Zusage der inzwischen von Hauke Heekeren geführten Uni, wieder Daten für das Ranking einzureichen, so dass dort die Informatik in Hamburg nicht mehr wie beim letzten Mal für die Unis bei den Masterstudiengängen nur durch die Technische Uni in Harburg vertreten sei.

Ein weiterer Ausbau der Informatik in Hamburg und eine Platzierung an der Spitze der Standorte sei zweitens essenziell für die Forschung in der Hansestadt , sagt Wolfgang Wahlster. „Die Informatik ist nicht nur eine Schlüsseltechnologie, sondern sie hilft auch, die Qualität der Forschung in allen Disziplinen stark voranzubringen.“ Es gebe eine „Informatisierung der Wissenschaften“, sagt der 70-Jährige. „Wenn Hamburg dabei abgehängt würde, dann kann sogar der Exzellenzstatus gefährdet werden.“

Vor diesem Hintergrund gehe es nicht in erster Linie darum, möglichst viele neue Professuren in der Kerninformatik zu schaffen. „Natürlich braucht Hamburg da auch Verstärkung. Was Hamburg aber dringend braucht, sind mehr Informatik-Brückenprofessuren hin zu den Anwendungsdisziplinen“, so Wahlster. Gemeint sind Forschende, die zwei Disziplinen verbinden – etwa Informatik und Medizin – und die Studierende und Doktoranden beider Disziplinen betreuen dürfen.

Es fehlt eine Persönlichkeit, die Grundlagen des maschinellen Lernens vorantreibt

In der Gründungsphase der Informatik sei Hamburg bundesweit dafür bekannt gewesen, das breiteste Angebot an interdisziplinären Anwendungsgebieten im Studium als Nebenfach anzubieten und in Forschungskooperationen zu bearbeiten , etwa Sprachwissenschaften, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Jura, BWL und Medizin. „Dieser frühe Hamburger Trend ist heute wieder topaktuell“, schreibt die Kommission um Wahlster. „Nahezu alle Fächer an den Hamburger Hochschulen bewegen sich mittlerweile aus eigenem Antrieb in Richtung Digitalisierung und Informatisierung. Sie sind daher darauf angewiesen, Wissen aus ihren Fachgebieten mit Expertise aus der Informatik zu verbinden.“ Derart interdisziplinär ausgebildet Absolventen seien heiß begehrt, sagt Wahlster. Biontech etwa habe zuletzt auch Absolventen eingestellt, die Biologie und Informatik studiert haben.

Abgesehen von den Brückenprofessuren hält die Kommission zwei Positionen für enorm wichtig, nämlich die an der Uni Hamburg geplanten Professuren für maschinelles Lernen und Data Science. Mit Maschinellem Lernen, der wohl bedeutendsten Anwendung von Künstlicher Intelligenz, haben zwar viele Informatiker an Hamburgs Hochschulen zu tun. Es fehlt aber eine Persönlichkeit, die Grundlagen des maschinellen Lernens vorantreibt, prägend wirkt, möglichst internationales Ansehen genießt. „Ohne eine hervorragende Besetzung beider Professuren könnte es schwierig werden, in der nächsten Runde der Exzellenzinitiative zu bestehen“, schreibt die Wahlster-Kommission. Hierfür Top-Leute zu gewinnen, sei auch für die anderen Hamburger Hochschulen und den Standort insgesamt entscheidend, denn die Stelleninhaber „werden andere High-Potentials anziehen“, schreiben die Gutachter. Es sei „eine gemeinsame Anstrengung aller am Standort Beteiligten – Hochschulen wie Wirtschaft – erforderlich“.

Apropos Kooperationen mit der Wirtschaft: „Hamburg hat als Metropole und mit seiner Wirtschaftsstruktur einen großen Vorteil: dass es digitale Massendaten in erheblichem Umfang gibt, etwa durch den Hafen, Speditionen und Versandhäuser.“, sagt Wolfgang Wahlster. „Aber diese Datenschätze werden noch viel zu wenig genutzt.“ Es gebe nicht genügend Spezialisten in der Stadt, die diese Daten mithilfe von maschinellem Lernen für eine Wertschöpfung nutzbar machen, sei es eine wissenschaftliche Erkenntnis oder eine wirtschaftliche Verwertung dieser Daten. „Das machen andere schon wesentlich besser“, sagt Wahlster.

Experten: Informatik fehlt ein Alleinstellungsmerkmal

Und noch einen weiteren Punkt hebt der Kommissionsvorsitzende hervor: Hamburg fehle es in der Informatik an Profilbildung, an einem Alleinstellungsmerkmal der Informatik. „Die Hochschulen müssen sich auf Informatikthemen einigen, die zu Hamburg passen, und diese Themen dann forcieren, um sie zu internationalen Leuchttürmen zu machen“, sagt Wahlster.

Aus der Professorenschaft heißt es, die Informatik in Hamburg habe Zeit verloren im Wettbewerb mit anderen Standorten. Es sei überfällig, sich auf den Weg an die Spitze zu machen; die Empfehlungen der Kommission seien überwiegend gut und richtig. Es dürften aber nicht schon wieder Unklarheiten bei der Finanzierung auftreten, wenn die Informatik weiter wachsen solle. Derzeit gebe es eine gewisse Zurückhaltung, sich bei Prozessen zu engagieren, bei denen nicht sicher sei, ob etwas herauskomme.

Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank kündigte an, sie werde „wichtige Impulse“ der Kommission aufgreifen. „Im Schulterschluss mit den Hochschulen wollen wir eine Informatik-Offensive starten.“ Dabei sei klar, „dass wir uns einen Ausbau der Kapazitäten langfristig nur mit zusätzlicher Finanzierung leisten können“. In den nächsten Monaten solle das Forschungsprofil in der Informatik in Hamburg hochschulübergreifend im Sinne des Gutachtens ausgerichtet werden. „An der Universität Hamburg werden Schlüsselprofessuren mit herausragenden Informatik-Kompetenz sowie Brückenprofessuren zu Exzellenzthemen besetzt“, sagte Fegebank. Die TU in Harburg solle sich weiterhin darauf konzentrieren, Informatik mit der Digitalisierung in Fachwissenschaften wie Maschinenbau zu verbinden. An der HafenCity-Uni gelte es, die von den Gutachtern gelobte Forschung zur „intelligenten Stadt“ auszubauen.

Hochschulen müssen mehr Informatikerinnen und Informatiker ausbilden

Die HAW Hamburg solle Forschungsbereiche mit Informatikkompetenz für das Promotionsrecht ausbauen.Ein „klarer Auftrag“ an die Stadt sei zudem der Ausbau von Studienplätzen, sagte Fegebank. Um dem Fachkräftemangel im IT-Bereich etwas entgegenzusetzen, müssen wir auch an den Hochschulen mehr Informatikerinnen und Informatiker ausbilden. „Wir haben uns daher mit allen Hochschulen verständigt, zunächst den Bachelor-Bereich an der HAW Hamburg zu stärken.“ Diese Angebote sollten an die Masterangebote von Uni, TUHH und HCU anschließen könnten. Mit der Hamburger IT-Wirtschaft sei die Wissenschaftsbehörde „im intensiven Austausch, um gemeinsame Kooperationen auszuloten, um mehr IT-Fachkräfte zu gewinnen“, sagte Fegebank. „Umso mehr freue ich mich, dass Vertreterinnen und Vertreter der IT-Wirtschaft Unterstützung durch Stiftungsprofessuren und duale Studienangebote signalisiert haben.“

bestärken uns in dem dringenden Appell, den Informatik Standort endlich auf ein Niveau mit München und Berlin weiterzuentwickeln“, sagt Raphael Vaino, Vorsitzender des IT-Executive Clubs. In dem Netzwerk haben sich IT-Führungskräfte aus mehr als 120 Hamburger Firmen zusammengeschlossen, unter ihnen etwa Otto, Beiersdorf und Hapag-Lloyd. „Wir spüren hier die Bereitschaft, nun sollten wir zur Tat schreiten“, sagte Vaino. „Das mit der ahoi.digital Initiative gegebene politische Versprechen, Hamburg zu einem Top-Informatik Standort auszubauen, muss noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Gerne helfen die Hamburger IT-Wirtschaft und IT-Entscheider, diesen Weg mit den Hochschulen und der Stadt zu beschreiten.“