Harburg. Die Adventszeit hat zwei Gesichter: Arme und Obdachlose sind besonders einsam, andere Bürger großherziger. Hilfe tut ganzjährig Not.
Die meisten Obdachlosen sieht man gar nicht. Viele Schlafplätze liegen gut versteckt, manchmal aus Scham, meistens um sich vor Diebstahl, Raub und Angriffen zu schützen. Viele Obdachlose übernachten auch nicht im Freien, „machen Platte“, wie sie es selber nennen, sondern kommen nächteweise bei verschiedenen Freunden und Bekannten unter, müssen morgens aber weiterziehen. Und Obdachlose sind nicht die einzigen, die der Gesellschaft vom Rand her zugucken, während das Weihnachtsfest vorbereitet wird.
Arme, gerade alte, Menschen; Vereinsamte gehören ebenfalls dazu. Für alle diese Menschen ist Weihnachten besonders hart, denn alle anderen freuen sich in dieser Zeit nicht nur auf ein paar Tage Geschenke und gutes Essen, sondern auch auf Zeit miteinander. Es gibt Harburgerinnen und Harburger, die das wissen und etwas gegen diese Weihnachtstraurigkeit der Bedürftigen unternehmen.
Advent für Bedürftige: Ein Meer aus roten Tüten wartet darauf, verteilt zu werden
Nikolaustag, nachmittags halb fünf: Im Gemeindesaal der Marienkirche klingen Weihnachtslieder aus dem Klavier. Etwa 80 Menschen sitzen an den langen Tischen, man hat sie alle schon mal irgendwo gesehen: Auf dem Rathausplatz oder in dessen Umgebung, beim Zeit totschlagen in den Grünanlagen, oder wie sie sich verschämt in Ecken drücken, um nicht aufzufallen. Es duftet nach Gebäck und Zitrusfrüchten, die Stimmung ist gelöst. Am Ende des Saales steht ein Meer aus roten Tüten, gefüllt mit weihnachtlichen Leckereien. .Sie warten darauf, verteilt zu werden.
Um viertel vor fünf ist es so weit: Kinder der katholischen Grundschule Harburg und Jugendliche aus der Oberstufe des Nils-Stensen-Gymnasiums (NSG) nehmen die Tüten und bringen sie zu den Empfängern. Ordentlich läuft das nur die ersten zwei Sekunden ab. Schnell entsteht ein Gewühl aus Schenkenden und Beschenkten. Hektik kommt trotzdem nicht auf. Jeder bekommt eine Tüte; mindestens.
Jedes Kind hat eine Kleinigkeit mit in die Schule gebracht. 70 volle Tüten sind zusammengekommen
„Die Tüten wurden an beiden Schulen von den Schülern gepackt“, sagt Grundschullehrerin Birgit Masur, an der katholischen Grundschule auch für die pastoralen Belange verantwortlich. „Jedes Kind hat eine Kleinigkeit mit in die Schule gebracht und so sind 70 volle Tüten zusammengekommen.“
Noch einmal 100 Tüten haben die Jugendlichen des NSG gefüllt, dabei gibt es dort gar nicht mehr so viele Schüler, wie an der katholischen Grundschule: Der Abiturjahrgang und der Jahrgang darunter sind die letzten, bevor das katholische Gymnasium den endgültig den Sparplänen des Bischofs geopfert wird. Die zuständige Lehrerin hier ist Annette Eberhard. „Das Gute an dieser Aktion ist, dass die Jugendlichen eine direkte Wirkung ihrer Wohltaten sehen“, sagt sie. „Das befriedigt junge Menschen und motiviert sie, weiter Gutes zu tun.“
Bedürftigkeit endet nicht mit dem Läuten zur Christmette
Weiter Gutes zu tun ist auch wichtig, denn Bedürftigkeit endet nicht mit dem Läuten zur Christmette. Viele Menschen, auch in der katholischen Kirche, engagieren sich das ganze Jahr über. Daher kennen die meisten Beschenkten das Gemeindehaus auch schon, 53 Wochen im Jahr wird hier einmal wöchentlich zur Suppenküche eingeladen. Ehrenamtliche Helfer verteilen das Essen, Gemeindemitglieder und Organisationen, wie der Rotary Club Hamburg Hafentor spenden für die Kosten. Hier, wie auch in den anderen Harburger Suppenküchen, etwa der Südsuppe in der Johanniskirche, zählt nicht nur die warme Mahlzeit, sondern auch, mal Zeit der menschlichen Wärme zu erfahren.
Die Zahl der Obdachlosen in Harburg hat sich 2023 gegenüber dem Vorjahr nicht verändert. „Meine Kollegin und ich haben in etwa dieselbe Anzahl an Kontakten, wie 2022“, sagt Richard Luther, als Straßensozialarbeiter der Diakonie unter anderem für die Obdachlosen in Harburg und Wilhelmsburg zuständig. Sie kennen fast alle Platten im Süden und die meisten, die dort wohnen. „Im Winter sind es weniger, weil die Winternotprogramm-Unterkünfte nördlich der Elbe liegen“, sagt Luther, „aber 50 bis 80 sind es immer noch hier.“
Einige Wohnungslose haben nämlich nicht einmal auf einen Notprogramm-Platz Anspruch. Alle zum Beispiel, die noch eine Meldeadresse im EU-Ausland haben, oder solche, deren Aufenthaltsstatus unklar ist. Beides trifft vor allem osteuropäische Wanderarbeiter.
Obdachlosen Gutes tun können auch Besucher der Harburg-Arcaden: Bis zum Freitag läuft dort noch die Ausstellung „Kunsttausch für Obdachlose“ des Habibi-Ateliers. Seit sechs Jahren schon organisiert Habibi-Leiter Sladan „Sly“ Kristicevic die Spendenaktion. Das Prinzip: Künstler des offenen Ateliers im Obergeschoss des Einkaufszentrums stellen einige ihrer Werke zur Verfügung. Spender „kaufen“ diese. Geld als Zahlungsmittel ist dabei allerdings verpönt: Ein Bild gibt es nur gegen eine Sachspende, mit der ein Obdachloser etwas anfangen kann.
Bedürftigen zu helfen, ist ganzjährig möglich
„Warme Socken sind sehr beliebt, ebenfalls Handschuhe und Schals, Mützen, Isomatten und natürlich Schlafsäcke“, sagt Sly. Größere Kleidungsstücke werden nicht angenommen, weil die Habibi-Helfer die Spenden zu den Bedürftigen bringen und mit Jacken oder Hosen dabei überfordert wären. Die Schlafsäcke müssen wintertauglich, sprich: für zweistellige Minusgrade geeignet sein.
Kurz vor Heiligabend werden Sly und seine Helfer die Spenden bei den Obdachlosen verteilen. Deshalb ist Freitag auch der letzte Tausch-Tag. Schon jetzt hat sich eine beträchtliche Menge gespendeter Sachen im Atelier angesammelt. Das Habibi-Atelier hat bis dahin täglich von 12 bis 18 Uhr geöffnet.
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Wer den Freitag verpasst, muss sich nicht grämen: Bedürftigen zu helfen, ist ganzjährig möglich. So kann zum Beispiel die Obdachlosen-Einrichtung des Harburger Roten Kreuz‘, das „Harburg-Huus“, stets ehrenamtliche Unterstützung gebrauchen; ebenso, wie die Suppenküchen in Harburg und Wilhelmsburg.