Finkenwerder/Harburg. Ab heute wird Prozess gegen AMG-Raser von Finkenwerder neu aufgerollt. Jetzt spricht zum ersten Mal die Familie der Unfallopfer.
Wenn an diesem Donnerstag, 2. November, um 9 Uhr der Richter der kleinen Strafkammer des Landgerichts Hamburg den Berufungsprozess gegen den Todesfahrer von der Alten Süderelbe eröffnet, werden Familie Koßmann und Freunde wieder im Zuschauerraum Platz nehmen. Für die Familie der Unfallopfer ist die Wiederaufnahme des Prozesses nur schwer zu ertragen.
„Ich hätte erwartet, dass Ömer dieses eh schon schwache Urteil akzeptiert und uns nicht wieder durch die Hölle gehen lässt“, sagt Antonia Koßmann, die bei dem Unfall am 26. Dezember 2019 selbst schwer verletzt wurde und ihre Zwillingsschwester verlor.
Amtsgericht Harburg spricht ein vergleichsweise moderates Urteil
„Was ist ein Menschenleben wert? Welche Strafe ist gerecht?“ – diese Fragen stellt sich Familie Koßmann mindestens seit der Verurteilung des 28 Jahre alten AMG-Fahrers Ömer O. vor dem Harburger Amtsgericht am 11. Juli 2023 immer wieder. Mit einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, von denen er wegen der langen Verfahrensdauer nur 16 Monate absitzen muss, und einem 24-monatigen Führerscheinentzug sei der erheblich vorbestrafte Angeklagte eigentlich gut weggekommen, glaubten Prozessbeobachter und Opferfamilie seinerzeit.
Staatsanwaltschaft und Nebenklage hatten eine deutlich höhere Strafe für den notorischen Raser gefordert. Doch gegen das Strafmaß legten zunächst Ömer O. selbst, später auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Ihr verbrieftes Recht. Aber für die Opferfamilie beginnt erneut die Phase der Aufarbeitung – dabei möchte sie endlich zur Ruhe kommen.
Schrecklicher Unfall am Morgen des zweiten Weihnachtstages 2019
In den frühen Morgenstunden des 26. Dezember 2019 ist der Angeklagte Ömer O. mit seinem hochmotorisierten Mercedes-AMG bei überhöhter Geschwindigkeit und abgefahrenen Hinterreifen auf der Finkenwerder-Ortsumgehung unterwegs. Auf der Straße „An der Alten Süderelbe“ verliert er bei einer Geschwindigkeit von rund 105 km/h in einer Linkskurve die Kontrolle über seinen Boliden. Das Fahrzeug kollidiert mit dem Anprallschutz am rechten Fahrbahnrand. Bremsspuren gibt es nicht.
Die auf der Rückbank sitzende, nicht angeschnallte Mitfahrerin Julia Koßmann (zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt) wurde dabei so schwer verletzt, dass sie kurz darauf im Krankenhaus verstarb. Ihre angeschnallt auf dem Beifahrersitz sitzende Zwillingsschwester Antonia erlitt Frakturen zweier Lendenwirbelkörper, Prellungen und eine posttraumatische Belastungsstörung. Sie leidet noch heute körperlich und psychisch unter den Unfallfolgen. Auch der Fahrer des Pkw wird verletzt – vom Mercedes-AMG ist nur ein Schrotthaufen übrig.
Unfallfahrer erkundigt sich per WhatsApp nach dem Gesundheitszustand der Mitfahrerinnen
Noch im Krankenhaus posiert der Angeklagte, genau an dem Tag, an dem seine Mitfahrerin Julia stirbt, mit Victory-Zeichen auf dem Krankenbett. In einer WhatsApp-Nachricht an die Mutter erkundigt er sich zwar nach dem Gesundheitszustand der Unfallopfer, schließt aber mit den Worten: „Dumm gelaufen.“
Vor dem Amtsgericht beteuerte Ömer O., es täte ihm leid, auch er würde immer noch unter dem Unfall leiden. Er habe wiederkehrende Schmerzen im Bein, könne nicht dauerhaft stehen, musste den Job wechseln und eine Umschulung beginnen. Seinen Führerschein durfte O. zunächst behalten und zeigte direkt, welche Lehre er offenbar nicht aus dem Unfall gezogen hat – er blieb ein notorischer Raser.
Lerneffekt? Nach dem Unfall wird Ömer O. sechs weitere Male geblitzt
Da bei dem Unfall an Weihnachten 2019 sein Fuß zertrümmert wurde, konnte O. rund neun Monate lang nicht Auto fahren. Zurück hinter dem Steuer, war er nach dieser Zwangspause nicht immer nur vorsichtig. Innerhalb weniger Wochen wurde er sechsmal mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit geblitzt. Spitzenwert: statt Tempo 80 außerhalb geschlossener Ortschaften geriet er mit 121 km/h in eine Radarfalle. Außerdem, so bedauerte der Angeklagte sich im Prozess immer wieder selbst, müsse er in Finkenwerder bis heute mit Anfeindungen leben.
Letzte schöne Erinnerung: „Wir haben Raclette gegessen und Karten gespielt“
„Wir haben Raclette gegessen und Karten gespielt“, erinnert sich Mutter Rebecca Koßmann (48) an den Abend des ersten Weihnachtstages 2019. „Gegen 22 Uhr wollten die Kinder nochmal los, machten sich fertig und verließen das Haus“, so die Mutter. Wie so oft ging es für Antonia und ihren Kumpel Ömer zu Freunden an die Elbe.
Auf einem Platz neben der Freiwilligen Feuerwehr wollte man ein bisschen abhängen oder chillen, wie man neudeutsch sagt. Später ging es weiter in eine Bar. Dort traf Antonia ihre Zwillingsschwester Julia, man trank ein wenig, bis die Zwillinge gegen 2 Uhr müde wurden.
Feuerzeug löst einen Disput und letztlich die verhängnisvolle Beschleunigung aus
Dann startete man zu viert zu der verhängnisvollen Fahrt. Zunächst setzte man eine gemeinsame Bekannte ab, danach fuhr Ömer O. einen kleinen Umweg nach Hause. Als man noch eine Zigarette rauchen wollte, fiel das Feuerzeug runter. Ömer hielt auf der viel befahrenen Umgehungsstraße an, darauf entwickelte sich ein kurzer Streit, er solle weiterfahren und nicht auf der Straße stehen bleiben, sagte Antonia.
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„Ömer beschleunigte seinen Mercedes, ich wurde in den Sitz gedrückt und rief noch fahr langsamer“, schildert die heute 24-Jährige die letzten Sekunden vor dem Unfall. „Er fuhr immer schneller und wollte zeigen, was sein Auto kann, dann der Aufprall“, so Antonia Koßmann, die auch bei dem Berufungsprozess wieder auf der Nebenklagebank Platz nehmen wird. „Ich habe geschrien vor Schmerzen, meine Schwester lag blutend auf der Rückbank. Ich wusste sofort, es ist etwas Schlimmes passiert.“
„Als ich beim zweiten Anruf ranging, hörte ich im Hintergrund meine Tochter schreien“
Freunde in einem zufällig vorbeikommenden Fahrzeug riefen den Rettungsdienst und die Eltern an. „Ich hab mein Handy zunächst ignoriert“, erinnert sich Rebecca Koßmann. „Als ich nach dem zweiten Anruf doch ran ging, hörte ich eine Bekannte und im Hintergrund meine Tochter schreien“, so die Mutter. „Es war einfach schrecklich, aber immerhin sagte sie, Julchen sei nichts passiert. Sie sitzt bereits im Rettungswagen.“ Ein Irrtum, wie sich später herausstellte. Sofort machte sie sich mit ihrem Lebensgefährten Michael (51) auf den Weg zur Unfallstelle. Doch die Rettungskräfte ließen die Familie zunächst nicht durch.
Im Krankenhaus angekommen, konnten die Eltern noch kurz die Hand ihrer Tochter Antonia drücken, dann ging es auch schon in den Operationssaal zur Not-OP. „Zu Julia durften wir da noch nicht. Aber ich merkte bereits an dem regen Treiben des medizinischen Personals, dass es Julia nicht gut geht“, schildert die Mutter, die selbst Kinderkrankenschwester mit intensivmedizinischer Erfahrung ist, unter Tränen. „Beim Anblick von drei Ärzten und zwei Schwestern habe ich erstmals die Fassung verloren. Man vertröstete uns und sagte, man wolle ihrem Körper erstmal Ruhe geben“, so die Erinnerung der Eltern.
Mutter Rebecca ist Kinderkrankenschwester, das rege Treiben der Ärzte macht sie unruhig
Man habe sich im Krankenhaus rührend um die Familie gekümmert, sogar ein Zimmer geräumt, damit die Eltern in der Nähe ihrer Tochter sein konnten. Dafür sei man sehr dankbar. Antonia war am frühen Morgen nach der Operation stabilisiert, doch der schwerste Moment stand bevor. „Die Ärzte holten uns und den leiblichen Vater ins Zimmer. Man teilte uns mit, dass Julchen hirntod sei“, erinnert sich die Mutter erneut unter Tränen.
Es fällt den Angehörigen bis heute schwer, über das Erlebte zu sprechen. Dann tat man alles, um auch Antonia den Abschied zu ermöglichen, mit ihrem Krankenbett und allen Geräten wurde sie an das Bett ihrer sterbenden Schwester gefahren, um sich zu verabschieden.
Antonia Koßmann überlebt den Unfall, Rückenverletzung macht ihr zu schaffen
Die heute 24-jährige Antonia überlebte den schrecklichen Unfall, musste aber viele Dinge neu lernen. Ihre Rückenverletzung macht ihr zu schaffen. Ihre Ausbildung zur Bürokauffrau musste sie unfallbedingt kurz vor der Prüfung abbrechen. „Ich bin eine junge Frau, natürlich möchte ich teilnehmen und habe Pläne“, sagt sie heute selbstreflektiert, „aber es geht leider noch nicht so richtig.“ Bis heute klagt sie über Schmerzen und hat an manchen Körperstellen eine Taubheit. Sie unterzog sich Spitzen- und Physiotherapien.
Im September 2021 ist die Familie aus ihrem Haus in Finkenwerder ausgezogen. „Man geht mit einem mulmigen Gefühl zum Einkaufen. Viele Nachbarn kennen mich, seitdem ich fünf Jahre alt bin“, erklärt Mutter Rebecca. Später kamen Gerüchte und Tratschereien dazu, davon musste die Familie erstmal Abstand gewinnen.
Familie hat Finkenwerder verlassen und wohnt mittlerweile in Neu Wulmstorf
Auf eines konnte sich die Koßmanns stets verlassen: den familiären Zusammenhalt. In Neu Wulmstorf haben Rebecca und Lebensgefährte Michael Koch mittlerweile eine neue Wohnung bezogen. Auch Antonia und ihr Patchwork-Bruder haben das Elternhaus verlassen und versuchen, ihr eigenes Leben zu führen. „Weihnachten und Silvester gibt es für uns nicht mehr“, so Vater Michael Koch. „Aber wir hoffen, bald endlich abschließen und das Erlebte endgültig verarbeiten zu können.“
Wäre da nicht der Berufungsprozess, über den sich die Familie ärgert. „Ich hätte mir gewünscht, dass Ömer die Strafe akzeptiert und wir Julia endlich vollständig zur Ruhe betten können. Erst danach finden auch wir hoffentlich unseren Frieden“, so Rebecca Koßmann. Leider konnte Julia noch nicht endgültig beigesetzt werden, da die Rechtsmedizin immer noch Beweise zurückhält.
„Hätte mir gewünscht, dass Ömer die Strafe akzeptiert und wir Julia endlich zur Ruhe betten können“
Zu einem späteren Zeitpunkt, nach Abschluss der Verfahren, wird noch eine Nachbestattung erfolgen. „Alle vier Tage fahren wir zum Friedhof nach Finkenwerder und zünden eine Kerze für unser Julchen an. Das ist uns wichtig“, erklärt Michael Koch abschließend.
Für ihre Schwester Antonia Koßmann ist klar, dass sie am Donnerstag wieder mit ihrem Anwalt die Nebenklage vertreten wird. Egal wie schwer es wird. Schon beim Prozess vor dem Amtsgericht im Sommer kamen ihr mehrfach die Tränen. „Ich habe schon lange keine Kraft mehr, aber ich mache es für Jule“, so die Zwillingsschwester.