Harburg. Jens Mollenhauer hat etliche kriminelle Jugendliche erlebt. Welche Rolle Väter spielen und wie er mit Kindern aus Clans umgehen würde.
Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen nehmen bundesweit zu: Für Tatverdächtige unter 18 Jahren verzeichnet die aktuelle Kriminalstatistik ein Plus von 35,5 Prozent. Unter den damit verbundenen Delikten im Jahr 2022 finden sich etwa Diebstahl, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Rauschgiftdelikte – und neuerdings auch das Versenden kinderpornografischer Inhalte auf dem Handy.
Auch für Hamburg bestätigt sich der Trend. Im Süden der Elbe befassen sich aktuell Polizei und Jugendschützer mit einer drohenden Gewalt-Spirale zu Halloween. Am Montag eskalierte eine pro-palästinensische Demonstration auf dem Harburger Ring, weitere Ausschreitungen könnten folgen. Was sind die Gründe und welche Maßnahmen sollten ergriffen werden?
Interview zu Gewalt bei Jugendlichen: Jens Mollenhauer spricht aus Erfahrung
Mögliche Antworten darauf liefert Jens Mollenhauer im Gespräch mit dem Abendblatt. Der ehemalige Polizist (Hauptkommissar a.D.) hat 40 Jahre lang als Beamter auf Hamburgs Straßen gearbeitet und war zuletzt Leiter der Jugendschutzeinheit der Hamburger Polizei. Heute ist er Gewaltpräventionstrainer und gehört zum ehrenamtlichen Sprecherrat des Bundesnetzwerks Zivilcourage. Das Netzwerk trifft sich am kommenden Freitag und Sonnabend, 27. und 28. Oktober, in Buchholz zum Symposium unter dem Titel „Bürgermut statt Bürgerwut“.
Mollenhauer ist außerdem Autor. In seinem kürzlich erschienen Buch „Herzgewalt“ (Rowohlt Verlag) schildert er seine Begegnungen mit gewalttätigen Jugendlichen und plädiert für einen anderen Umgang mit unseren Kindern. Aufgeben ist für ihn keine Option.
Abendblatt: Sie haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Jugendliche von Straftaten abzuhalten. Sind Sie nicht frustriert angesichts einer Entwicklung, bei der die Gewalt auf Deutschlands Straßen zu explodieren scheint?
Jens Mollenhauer: Nein, ich bin Optimist. Wenn ich mit meiner Arbeit zwei von sechs Kindern und Jugendlichen erreiche, dann ist das schon ein Erfolg. Ich verhindere damit unter Umständen viele Opfer von Gewalt. Aber ich werde nicht alle Menschen bekehren können.
Warum läuft die heutige Jugend zumindest gefühlt völlig aus dem Ruder?
Mollenhauer: Es fehlt mehr denn je an Menschen, die nah dran sind an den Gefühlen der Kinder und Jugendlichen und ihnen Empathie und einen Sinn für gesellschaftliches Miteinander vermitteln. Viele Eltern sind heute stark ich-bezogen und auf das Geldverdienen konzentriert. Sie sichern den materiellen Bedarf ihrer Kinder, aber sie bauen keine echte Beziehung mehr zu ihnen auf. Es fehlt an Zeit, Zuneigung und Zärtlichkeit. In der Folge dieser Vernachlässigung ist eine Tendenz zur Verrohung der Kinder und Jugendlichen festzustellen.
Woran machen Sie das fest?
Mollenhauer: Wir ermitteln jetzt erstmals in Tötungsdelikten, die Kinder begangen haben und die an Grausamkeit nicht zu überbieten sind. Jetzt kommt Halloween auf uns zu, dem wir mit Sorge entgegenblicken. Was mich ebenso schockiert, ist, dass Gewalttaten gegenüber Feuerwehrleuten und Rettungskräften verübt werden, dass Flaschen und Feuerwerkskörper auf Menschen geworfen werden, die wirklich nur Gutes tun. Es wird nicht mehr darüber nachgedacht. Umso wichtiger ist Präventionsarbeit.
In ihrem neu erschienenen Buch „Herzgewalt“ schreiben Sie, dass die Wurzeln für eine spätere Gewaltbereitschaft schon sehr früh in der Kindheit gelegt werden. Was sind diese Wurzeln?
Mollenhauer: Neben Zeit, Zärtlichkeit und Zuneigung fehlt es an positiven Vorbildern. Und an klaren Grenzen. Hinzu kommen Langeweile und Abenteuerlust. Eine Rolle spielt auch, dass in vielen Familien der Vater fehlt.
Wie meinen Sie das?
Mollenhauer: Die Familienstruktur, die früher vieles aufgefangen hat, ist heute vielfach nicht mehr da. Ich bin selbst vaterlos aufgewachsen. Und habe in meiner Arbeit erlebt, dass alleinerziehende Mütter häufig überfordert waren. Hier muss so früh wie möglich gegengesteuert werden.
Wie soll das funktionieren?
Mollenhauer: Ich plädiere dafür, dass die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer schon in der Grundschule zu 100 Prozent von Sozialarbeitern begleitet wird. Diese Tätigkeit muss aufgewertet und attraktiv gemacht werden. Es müsste geprüft werden, ob auch Menschen mit Migrationshintergrund diese Arbeit übernehmen sollten, weil sie aus Kenntnis anderer Kulturen vielleicht eher Nähe zu vielen Kindern herstellen.
Ist die Bedeutung von Prävention schon bei allen angekommen?
Mollenhauer: Nein. Besser, man gibt Geld aus, um Gewalt zu verhindern, als später ihre Erscheinungsformen bekämpfen zu müssen. Wichtig ist auch, die Arbeit ehrenamtlicher Organisationen wie zum Beispiel HateAID zu unterstützen, die nach Verbreitung von Gewaltbotschaften im Netz sucht. Das schaffen die Behören nicht. Und auch die Polizei ist überfordert. Die Zuschüsse für solche Organisationen zu kürzen, ist völlig falsch.
Was hat Sie persönlich motiviert, diese Arbeit 40 Jahre lang durchzuhalten?
Mollenhauer: Ich war selbst als Jugendlicher kein unbeschriebenes Blatt. Und das hatte seine Gründe: Meine Mutter hat mir erst als ich 16 war erzählt, dass mein früh verstorbener Vater gar nicht mein leiblicher Vater war. In Wirklichkeit lebte mein Vater noch. Mit dieser Lüge hat mir meine Mutter seelische Gewalt angetan. Ich nenne das Herzgewalt. In der Schule begegnete ich Lehrern, die mir nur Wissen vermitteln wollten und kein Verständnis dafür zeigten, warum ich so schwierig war. Ich hatte große Wut, buchstäblich Feuer im Bauch.
Wie ging es für Sie weiter?
Mollenhauer: In den USA lernte ich den Psychologen Marshall Bertram Rosenberg kennen. Er vermittelte mir, die Schönheit im Menschen zu suchen und zu erkennen und sie auch in denen zu vermuten, die schwierig und abstoßend sind. Das hat mir den Kick gegeben. Mach es besser, als du es selbst erlebt hast, habe ich mir gesagt. Rosenberg und sein Konzept der gewaltfreien Kommunikation haben mich motiviert, in der Hamburger Polizei die Kommunikationsteams zu begründen, die bei Demos auf die Teilnehmer zugehen und mit ihnen sprechen, um zu deeskalieren, das alles in Zivil, ohne Helm, ohne Schutzausrüstung.
Welche Rolle spielen Social-Media-Plattformen wie TikTok bei der Initiierung von Gewalt?
Mollenhauer: Sie sind Brandbeschleuniger. Viele Videos zeigen ein Leben, das von Gewalt geprägt ist. Und sie vermitteln, dass diejenigen, die Gewalt ausüben, Respekt und Anerkennung bekommen, also genau das, wonach junge Menschen suchen. Wer gewalttätig wird, ist plötzlich im Internet ein Held. Schon Grundschüler haben über ihre Handys Zugang zu Gewaltvideos. Manche sind 60 Stunden die Woche im Netz.
Was macht das mit ihnen?
Sie können nicht verarbeiten, was sie da sehen. Es braucht Menschen, die Kindern diese Zusammenhänge erklären. Ich finde es schrecklich, dass in den Schulen keine ausreichend ausgebildeten Medienpädagogen tätig sind. Lehrer, die frisch aus dem Studium kommen, sind damit überfordert. Präventive Arbeit müsste viel stärker als bisher in das Lehramtsstudium eingeflochten werden.
Sie fordern auch mehr Mut zur Zivilcourage. Aber was sollen Lehrer in Gewaltsituationen konkret tun? Sie dürfen ihre Schüler doch noch nicht einmal mehr anfassen, ohne juristische Konsequenzen fürchten zu müssen.
Mollenhauer: Man muss schon wissen, wer, wann und wie eingreifen darf. Wenn jemand auf einen anderen eintritt, dann muss ich den festhalten. Und das Opfer entfernen, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen. Wie das geht, das hat man Lehrerinnen und Lehrern in ihrer Ausbildung leider nicht gezeigt, das vermittle ich in Anti-Gewalt-Trainings.
Glauben Sie, dass diese Rezepte auch bei Kindern und Jugendlichen wirken, die einem Clan angehören und nur das Recht des Stärkeren kennen? Und ist bei einigen gewaltbereiten Jugendlichen oft auch der Zeitpunkt verpasst, an dem sie durch persönliche Ansprache noch erreichbar sind?
Mollenhauer: Den gibt es, man muss ihn nur erkennen. Ich bin nicht weichgespült, ich denke nicht nur präventiv. Man muss diese Gesellschaft vor Gewalt schützen. Oft tut es jungen Gewalttätern gut, wenn sie aus ihrem Umfeld entfernt werden und mit ihnen erzieherische Arbeit geleistet wird, in der klare Grenzen gesetzt werden. Von Wegsperren halte ich allerdings gar nichts, auch nicht von einer Verschiebung der Strafmündigkeit. Der Jugendschutz müsste näher an den Jugendlichen dran sein, in die Familien gehen, sich ein Bild machen, was auf die jungen Menschen einströmt. Wir müssen das System verändern.
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Infos zum Buch „Herzgewalt“ und zur Veranstaltung „Bürgermut statt Bürgerwut“ in Buchholz
Jens Mollenhauer: „Herzgewalt. Warum wir kriminelle Jugendliche nicht alleinlassen dürfen“, Rowohlt Verlag, 288 Seiten, 14 Euro als Taschenbuch und 9,99 Euro als E-Book.
Veranstaltung: Zivilcourage Symposium, „Bürgermut statt Bürgerwut“, am Freitag und Samstag, 27. und 28. Oktober, in Kirche und Gemeindehaus St. Paulus, Kirchenstraße 4, nähere Infos unter www.bundesnetzwerk-zivilcourage.de