Harburg. Hilfseinrichtung Abrigado gedenkt der 2022 verstorbenen Klientinnen und Klienten. Der Vormarsch von Crack ändert die Arbeit radikal.

„Eine Drogenhilfeeinrichtung? Muss das denn sein?“, fragen sich viele Menschen, gerade auch, wenn so eine Einrichtung in ihrer Nähe ist und eröffnet werden soll. Die Zahlen sagen deutlich: „Ja!“: Fast 50.000 Besucherkontakte zählte die Harburger Einrichtung Abrigado 2022. 400 bis 500 Klienten nutzen die Einrichtung regelmäßig.

Der 21. Juli ist der Internationale Tag der Drogentoten. Und auch wenn es Zweck des Abrigado ist, Drogentote zu vermeiden, gelingt dies nicht immer. Auch das Abrigado trauert an diesem Tag um Menschen.

Trauerfeier im Abrigado: Aus einer Statistik werden Namen

1990 Menschen starben 2022 in Deutschland an den Folgen ihres Drogenkonsums. Die Studie des Bundesdrogenbeauftragten zählt Überdosen und konsumbedingte Erkrankungen. Tode als Folgen der suchtbedingten Selbstvernachlässigung sind darin nicht mitgezählt. Aus dem Besucherkreis des Abrigado stammten sieben der 1990 Verstorbenen. Sie werden an diesem Tag einen Namen bekommen.

„Wir werden nachmittags vor der Einrichtung eine Trauerfeier abhalten“, sagt Christina Schulte-Scherlebeck, Sozialarbeiterin und Co-Leiterin im Abrigado. „Besucher werden die Namen der Verstorbenen auf Karten schreiben und mit Luftballons in den Himmel schicken.“

Die Gedenkfeier für die verstorbenen Abrigado-Gäste im Jahr 2021.
Die Gedenkfeier für die verstorbenen Abrigado-Gäste im Jahr 2021. © xl | Lars Hansen

Am Boden bleibt ein Gedenkstein. Der ist neu. Die Abschiede werden bereits seit einigen Jahren am 21. Juli vollzogen, aber einen Gedenkstein gab es bislang nicht. Die Trauerrede hält die ehemalige Bürgerschaftsabgeordnete Kersten Artus.

Einrichtungen wie das Abrigado betreiben „Akzeptierende Drogenhilfe“

Das Abrigado gibt es seit fast 30 Jahren. In den 1980er- und 90er-Jahren war die Zahl der Drogensüchtigen und damit auch der Drogentoten in Deutschland in die Höhe geschnellt. Regelmäßig wurden tote Drogenkonsumenten auf öffentlichen Toiletten, in Hauseingängen oder Parks gefunden und sorgten dafür, dass die Öffentlichkeit Handlungsbedarf sah. Und sie sorgten dafür zu zeigen, dass die bisherige verbotsorientierte Herangehensweise wenig Erfolg zu haben schien.

Einrichtungen wie das Abrigado betreiben „Akzeptierende Drogenhilfe“. Das bedeutet zunächst, dass ohne Kommentar hingenommen wird, dass der Besucher drogensüchtig ist. Primär geht es darum, die Begleitumstände des Konsums so zu gestalten, dass sie weniger gesundheitsgefährdend sind.

Es gibt sichere und saubere Konsumräume, täglich eine grundlegende Gesundheitsversorgung durch einen Krankenpfleger und zweiwöchentlich eine Arztsprechstunde. Es gibt Gelegenheiten zur Körperpflege und zum Wäschewaschen, eine Kleiderkammer sowie Getränke und Lebensmittel, letztere in Zusammenarbeit mit der Tafel Harburg.

Bei vielen ist der Wunsch zur Veränderung stark, aber sie halten nicht durch

Darüber hinaus gibt es Sucht- und Sozialberatung. Besucher, die von sich aus aus der Sucht ausbrechen möchten, bekommen hier Ratschläge für den Einstieg zum Ausstieg. Mögliche Therapien machen die Klienten dann in anderen Einrichtungen.

Sozialarbeiter Johnny Schanz im Ambulanzraum.
Sozialarbeiter Johnny Schanz im Ambulanzraum. © HA | Lars Hansen

„Der Wille zur Veränderung ist bei vielen unser Besucher stark“, sagt Sozialarbeiter Johnny Schanz, ein Abrigado-Urgestein, „aber oft halten sie nicht durch. Sucht ist hinterhältig, heimtückisch und verführerisch.“

Crack hat die Arbeit des 41-köpfigen Teams verändert

Besonders hinterhältig ist die Sucht bei der Substanz, die längst Heroin als führende Droge abgehängt hat: Crack. Zwei Drittel der Abrigado-Besucher sind mittlerweile davon abhängig. Das verändert die Arbeit des 41-köpfigen Teams: „Der Rausch bei Crack hält nur kurz an, und die Droge ist auch nicht lange haltbar“, erklärt Johnny Schanz. „Das bedeutet, dass die Konsumenten eigentlich permanent unter Beschaffungs- und Konsumdruck stehen und immer nur kurz kommunikationsfähig sind. Das drückt auch für unsere Arbeit aufs Tempo.“

Christina Scherlebeck-Schulte illustriert das an einem Beispiel. „Es kommt vor, dass man gemeinsam mit einem Klienten ein Behördentelefonat führt und der aber schnell mal in den Konsumraum verschwindet. Dann muss man ihm das Telefon dahin hinterhertragen, damit er seine persönlichen Daten angeben kann.“

Crack-Abhängige sind gestresst, dünnhäutig und aggressiv

Der ständige Druck durch die Sucht und die Stresshormon produzierende Wirkung der Droge sorgt dafür, dass die Konsumenten gleichzeitig dünnhäutig und aggressiv werden – eine explosive emotionale Mischung, die sich in der jüngeren Vergangenheit auch in Gewalt entlud.

Das Abrigado stellt deshalb aktuell mehr Mitarbeiter zur Betreuung der ungeduldig Wartenden auf dem Hof ab. Diese fehlen dann in der Beratung. Unter anderem deshalb musste die Einrichtung nun ihre Öffnungszeiten reduzieren.

„Viel unserer Arbeit besteht aber erst einmal aus Zuhören“, sagt Sozialarbeiterin Magdalena Eder. „Das kommt in solchen Situationen zu kurz.“

Neuer Standort hat noch viele Fragezeichen

Eigentlich möchte das Abrigado gern seine Öffnungszeiten ausweiten. Am Standort auf dem Schwarzenberg geht das nicht. Nebenan liegt eine Schule. Die Hilfseinrichtung kann erst nachmittags öffnen. „Und am geplanten neuen Standort drohen ähnliche Einschränkungen“, sagt Christina Schulte-Scherlebeck. „Das ist nicht ideal.“

Noch ist der neue Standort allerdings nicht einmal komplett durchgeplant und baugenehmigungsreif. Auch in den nächsten Jahren wird das Abrigado seiner Toten wohl unter den Bäumen am Schwarzenberg gedenken.