Harburg. Bis zu 200 Drogenabhängige bitten täglich im Abrigado um Hilfe. In 2016 fast 49.000 Kontakte gezählt.
Die Zahlen belegen eine Not, die für viele kaum vorstellbar ist: Zwischen 80 und 200 Abhängige kommen Tag für Tag ins Abrigado, um hier ihre Drogen zu konsumieren – vor allem Heroin, Kokain und Crack. Zwischen 18 und 65 Jahre sind sie alt und ganz unten.
Die meisten (etwa 80 Prozent) haben einen Haufen psychischer Probleme. Arbeit, ein Dach über dem Kopf, ein Einkommen, Krankenversicherung – das alles haben viele von ihnen nicht. „Für die sind wir das letzte Auffangbecken“, sagt Urs Köthner, Geschäftsführer des Abrigado: „Wir retten hier jeden Tag Leben.“
Den Harburger Gesundheitsausschuss informierte er jetzt über die Arbeit seiner Einrichtung, die die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz jährlich mit 660.000 Euro finanziert. Eine Förderung, die auf der Annahme basiert, das es die Einrichtung pro Jahr mit 20.000 Besucherkontakten zu tun hat.
Die Realität sieht anders aus: 48.214 Besuchs- und 46.047 Konsumkontakte wurden im vergangenen Jahr registriert, so Köthner. Und obwohl der Umbau des Abrigado mit einhergehender Vergrößerung um 100 Quadratmeter erst 2016 abgeschlossen worden ist, reicht der Platz jetzt schon wieder nicht mehr aus: „Wir platzen aus allen Nähten“, sagt Köthner.
Auch sein Team (vier Stellen für Sozialarbeit, 2,5 für medizinische Versorgung sowie für zehn studentische Hilfskräfte, die im Service eingesetzt sind) arbeitet am Limit; so groß ist der Andrang, so vielfältig sind die Anforderungen: Sie beraten, vermitteln, versuchen die Abhängigen psychisch zu stabilisieren und ihnen in allen erdenklichen Lebenslagen zu helfen.
Von denen, die montags bis freitags zwischen 13.30 und 19 Uhr, ins Abrigado kommen, sind ein Drittel Frauen. Insgesamt die Hälfte der Kunden, wie Köthner die Abhängigen nennt, hat Migrationshintergrund.
Sie kommen um ihre Drogen zu nehmen, gebrauchte Spritzen gegen (kostenlose) neue zu tauschen oder um ihre Wunden behandeln zu lassen. Manche kommen aber auch, weil es hier Essen und Trinken zum Selbstkostenpreis gibt, weil sie Wäsche waschen, duschen oder ihre Post abholen können: „Schadensminimierung über Lebenshilfe“, nennt Köthner das, was er und sein Team diesen Menschen bieten.
Das geht soweit, dass Kinder von Abhängigen in der Kita nebenan betreut werden, während sich ihre Eltern im Abrigado die Drogen reinziehen, die sie brauchen, um über den Tag zu kommen. Eine Kooperation, die seit 2010 besteht und bundesweit einmalig sei, sagt Köthner. Und die auch deshalb so wichtig sei, weil sonst jegliche soziale Kontrolle über diese Mädchen und Jungen verloren ginge.
Nur 80 Meter vom Abrigado entfernt betreut die Elbkinder-Kita Bissingstraße in einem Pavillon auf dem benachbarten Schulgelände eine integrative Gruppe zu der zeitweilig acht Kinder (aus vier Familien) gehören, deren Eltern drogenkrank sind.
Dass der Fortbestand dieser Kooperation gesichert ist, begrüßten die Mitglieder des Ausschusses ebenso, wie dieses neue Abrigado-Projekt: Zweimal im Monat, jeweils für drei Stunden, gehen Kunden des Abrigado in den Stadtpark und räumen Müll weg, den andere Junkies dort hinterlassen haben.
Seit Januar besteht diese Kooperation mit der Abteilung Stadtgrün des Harburger Bezirksamtes, die es ermöglicht, dass Köthner den Beteiligten pro Einsatz eine Ehrenamtspauschale in Höhe von 10 Euro pro Einsatz zahlen kann. Eine gute Sache sei das, so die einhellige Auffassung des Ausschusses. Wie das Abrigado überhaupt auf Unterstützung zählen kann.
Jedenfalls schlug Jürgen Marek (Grüne) vor, Grüne und Sozialdemokraten, die gemeinsam in Hamburg die Regierung stellen, sollten sich im Senat dafür einsetzen, dass das Mitarbeiterteam des Abrigado wenigstens um eine Stelle aufgestockt wird: „Da müssen wir uns mal gerademachen.“ Sein Vorschlag stieß allenthalben auf Zustimmung. Urs Köthner freut’s: „Ich brauche lokale Unterstützung für meine Gespräche mit der Behörde.“ Das umso mehr, als die Kollegen wirklich „sehr ausgeblutet“ seien.
So viel Rückenwind tut gut, gerade wenn die Beteiligten mehrheitlich auf dem Zahnfleisch gehen: „Das zeigt einem eine Perspektive auf, die Hoffnung macht.“
Geschützter Raum
freiraum hamburg e. v.ist Träger des Abrigado (aus dem Spanischen = geschützt, bedeckt) und leistet seit 1993 niedrigschwellige und akzeptierende Drogenarbeit in Hamburg. Der Verein war der erste in Deutschland, der Gesundheitsräume mit Konsummöglichkeiten eingerichtet hat. Er hat im Februar 1994 zunächst das Drug-Mobil in Billstedt eröffnet, dann im Mai das Abrigado in Harburg an der Schwarzenbergstraße 74. Im August 1995 folgte FixStern in Altona.
Während Drug-Mobil und FixStern Ende 2013 vom Senat geschlossen wurden, gibt es das Abrigado bis heute. Noch immer bundesweit einmalig: die Kooperation mit der Kita Bissingstraße, die in einem Pavillon auf dem benachbarten Schulgelände aktuell auch acht Kinder betreut, wenn deren Eltern nebenan Drogen konsumieren.