Neu Wulmstorf. Neues Ärztehaus am Bahnhof sollte die medizinische Versorgung verbessern. Doch 40 Prozent der Fläche bleiben leer – die Gründe.
Auf einen Termin beim Facharzt warten Patienten im Landkreis Harburg teilweise Wochen und sogar Monate. Neupatienten werden in manchen Praxen oftmals gar nicht mehr angenommen. Da macht auch Neu Wulmstorf keine Ausnahme.
Warum das trotz guter Rahmenbedingungen in naher Zukunft so bleiben dürfte, macht die verfahrene Lage des neuen Ärztehauses am Neu Wulmstorfer Bahnhof deutlich.
Ärztehaus Neu Wulmstorf: Erst 60 Prozent der Flächen sind vermietet
„Wir stecken mit dem Ärztehaus in einem Dilemma“, sagt Sven Geertz, Geschäftsführender Gesellschafter der Hausbau-Immobiliengesellschaft (HBI). Das Unternehmen aus Buxtehude hat das moderne Ärzte- und Dienstleistungszentrum gebaut. 60 Prozent der Flächen wurden laut HBI inzwischen an Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen und medizinische Dienstleister vermietet.
„Es gibt weitere Ärzte, die kommen wollen. Sie haben aber nicht die Möglichkeit dazu, weil es keine freien kassenärztlichen Sitze gibt“, beschreibt Geertz die Problematik. „Das ist sehr ernüchternd, denn es gibt hier vor Ort eine starke Nachfrage vonseiten der Patienten und die wird mit der Fertigstellung der neuen Wohngebiete in Neu Wulmstorf und im Hamburger Süden noch steigen.“
Zur Komplettierung des Ärztezentrums fehlten noch vier bis fünf Fachrichtungen, so der Geschäftsführer der HBI.
Es fehlt an Augenärzten, Urologen, HNO-Ärzten, Neurologen
Der Knackpunkt ist die Zulassung durch die Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN). So konnten nach Angaben der HBI aufgrund des fehlenden KV-Sitzes mehrere Ärzte keine Praxis im Ärztezentrum eröffnen, darunter Praxen der Fachrichtungen Augenheilkunde, Gastroenterologie, Urologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Neurologie.
Das ist nicht nur für den Investor ärgerlich, sondern auch für die Patienten in Neu Wulmstorf, die täglich die Erfahrung machen müssen, dass es einen Mangel in der ärztlichen Versorgung gibt. Zumal auch viele Menschen aus den umliegende Ortschaften und aus den ebenfalls stark unterversorgten südlichen Hamburg zum Arztbesuch in die Gemeinde kommen.
Aus Sicht der KNV ist der Landkreis Harburg mit Ärzten gut versorgt
„Ich kann diese Diskrepanz zwischen chronischer Unterversorgung und angeblicher Überversorgung den Bürgern nicht mehr erklären“, sagt Neu Wulmstorfs Bürgermeister Tobias Handtke (SPD).
Die Crux liegt in der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN). Sie legt fest, wie viele Ärzte und Ärztinnen in einem bestimmten räumlichen Bereich tätig sein dürfen. Demnach ist der Landkreis Harburg mit den drei Planungsräumen Winsen, Buchholz und Harburg-Nord (Seevetal, Rosengarten, Neu Wulmstorf) gut versorgt.
Bei den Augenärzten gebe es einen Versorgungsgrad von 112 Prozent
Der Versorgungsgrad liegt demnach bei der hausärztlichen Versorgung zwischen 93,7 Prozent (Buchholz) und 104,7 Prozent (Harburg-Nord). Bei der fachärztlichen Versorgung steht der Landkreis gemessen am Versorgungsgrad der KV noch besser da: Er liegt bei allen Fachrichtungen zwischen 108,1 Prozent (Kinderärzte) und 124,9 Prozent (Frauenärzte).
Reiner Kaminski, Leiter des Fachbereichs Soziales, macht an einem Beispiel deutlich, was diese Zahlen tatsächlich bedeuten: „Im gesamten Landkreis haben wir 12,5 Augenärzte, was einen Versorgungsgrad von 112 Prozent bedeutet und damit eine Überversorgung darstellt. Aber jeder, der schon einmal einen Termin beim Augenarzt haben wollte, kann bestätigen, dass davon keine Rede sein kann.“
Dennoch gebe es aufgrund der Bedarfsplanung eine Zulassungssperre für Augenärzte. „Eine Unterversorgung fängt erst bei einem Versorgungsgrad von unter 50 Prozent an“, so Kaminski. „Man kann sich ja vorstellen, was das bedeuten würde.“
Der Bürgermeister kritisiert, dass die aktuelle Bedarfsplanung aus dem Jahr 1990 stammt
Das Problem liege eindeutig in der Bedarfsplanung und den damit verbundenen Zulassungssperren, sagt Neu Wulmstorfs Bürgermeister Tobias Handtke (SPD). Er macht darauf aufmerksam, dass die gemeinsame Bedarfsplanung aus dem Jahr 1990 stammt.
„Da hatten wir eine Ärzteschwemme“, so Handtke. „Inzwischen muss man sich fragen, ob wir mit diesen Strukturen noch richtig unterwegs sind.“
Zum Teil beträgt die Wartezeit für Kassenpatienten 30 Tage und mehr
Weil diese Dinge im Bund entschieden werden, appelliert Handtke an die zuständigen Bundestagsabgeordneten im Landkreis, sich für eine Änderung und eventuell eine Abschaffung der Bedarfsplanung einzusetzen. „Auch wenn ich weiß, dass dafür in Berlin ganz dicke Bretter gebohrt werden müssen: Es muss alles in Bewegung gesetzt werden, um die Situation bei der medizinischen Versorgung zu verbessern und der Realität anzupassen.“
Neu Wulmstorfs Problematik hinsichtlich der medizinischen Versorgung ist symptomatisch für die gesamte Bundesrepublik, wie Eugen Brysch, Vorstand der Patientenvertretung Deutsche Stiftung Patientenschutz, dem Abendblatt auf Nachfrage bestätigte: „Kassenpatienten werden nach wie vor häufig vertröstet. Zum Teil beträgt die Wartezeit 30 Tage und mehr“, so Brysch.
Schneller gehe es bei Privatpatienten, doch seit dem Wegfall der Neupatientenregelung Anfang dieses Jahres habe sich die Lage erneut verschärft.
Die Bedarfsplanung der KVN: Neue Zahlen für alte Probleme
Auch die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) räumt im Zuge der neuen Bedarfsplanungszahlen für das Land vom März ein, dass diese keine Abhilfe schaffen werden. Nach den neuen Bedarfsplanungszahlen der KVN gibt es in Niedersachsen aktuell 546 Niederlassungsmöglichkeiten für Hausärzte, 118,5 für Fachärzte und sieben für Psychotherapeuten.
Das seien „neue Zahlen für alte Probleme“, so Thorsten Schmidt, stellvertretender Vorstandsvorsitzende der KVN. „Wer glaubt, dass mit den neuen Berechnungen die flächendeckende Versorgung im ambulanten Bereich langfristig sichergestellt ist, sollte sich nicht täuschen“, so Schmidt.
Die KVN fordert vom Land Niedersachsen mehr Studienplätze im Fach Humanmedizin
„Selbst mit der besten Bedarfsplanung haben wir noch keinen einzigen neuen Arzt oder Psychotherapeuten für Niedersachsen. Die Sicherstellung der ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung wird immer schwieriger. Langfristig werden sich Patientinnen und Patienten auf längere Anfahrtswege und längere Wartezeiten einrichten müssen.“
Die KVN erneuerte die Forderung an die Landespolitik, zügig für mehr Studienplätze im Fach Humanmedizin zu sorgen.
Neu Wulmstorf wächst – und damit auch der Bedarf an Fachärzten
Im gesamten Land wird die dem einzelnen Bürger zur Verfügung stehende Arztzeit aufgrund der demografische Entwicklung, des Anstieg der Einwohnerzahlen und nicht zuletzt auch wegen des Trends zur ausgeglichenen Work-Life-Balance bei jüngeren Ärzten immer geringer.
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In der wachsenden Gemeinde Neu Wulmstorf erhöhen zudem Neubaugebiete wie die „Lessinghöfe“, die „Wulmstorfer Wiesen“, die „Wulmstorfer Höfe“ oder die Seniorenwohnprojekte im Süden und auf dem Kirchberg den Bedarf an Ärzten und medizinischen Dienstleistern erheblich.
„Für viele der benötigten Ärzte ist eine Zulassung im Planungsbereich des Landkreises Harburg derzeit nicht möglich“, fasst HBI-Geschäftsführer Geertz das Dilemma zusammen.
Fachärzte im Landkreis Harburg: Eine gute Nachricht gibt es doch
Seine Lösung: „Eine Anpassung der zu vergebenen Sitze würde den Zuzug von weiteren benötigten medizinischen Fachbereichen erleichtern.“ HBI stelle mit dem Ärzte- und Dienstleistungszentrum gern die dringend benötigten Praxisflächen zur Verfügung. „Aber wir werden bei den letzten Flächen eventuell umdenken müssen“, so Geertz. Eine erfreuliche Nachricht hat er zum Schluss aber doch noch parat: Im Herbst wird eine dermatologische Praxis ins Neu Wulmstorfer Ärztezentrum einziehen. Immerhin.
So wird der Bedarf berechnet: Bei der Festlegung des Bedarfs an Ärzten und Psychotherapeuten wird neben der Zahl der Einwohner sowie deren Alter und Geschlecht die Häufigkeit der Erkrankungen innerhalb einer Bevölkerungsgruppe berücksichtigt. Aufgrund dieser Faktoren werden die Verhältniszahl, die Anzahl der vorhandenen Ärzte und Psychotherapeuten sowie die aktuelle Einwohnerzahl in einem Planungsbereich zueinander ins Verhältnis gesetzt, um den aktuellen Stand der Versorgung zu berechnen. Die Berechnungen finden zweimal im Jahr statt.