Harburg. „Alles muss raus“ heißt es noch bis längstens Ende Juni im Warenhaus am Harburger Ring. Worauf Schnäppchenjäger dort hoffen dürfen.
Wer in der Karstadt-Filiale die Rolltreppe ins Untergeschoss nimmt, fährt auf eine besondere Menschengruppe zu: Rund 30 glänzend weiße Schaufensterpuppen stehen vor dem ehemaligen Eingang zum Lebensmittelmarkt, der bereits 2019 geschlossen wurde. Neben den teils kopflosen Puppen stehen ähnlich viele Torsi. Wer damit seine Wohnung schmücken möchte, zahlt für die „Vollfigur“ 75, für einen Torso 30 Euro.
Der Slogan „Alles muss raus“ bezieht sich im in Schließung befindlichen Kaufhaus nicht nur auf die Waren, sondern auch aufs Inventar. So ist das Untergeschoss zur vorübergehenden Möbelabteilung geworden, in der Regale und Kleiderständer, Steh- und andere Tische zu haben sind.
Auf dem früheren Durchgang zur S-Bahn-Station wird’s weihnachtlich: Dort sucht ein großer Schlitten mit vier Rentieren einen Liebhaber, der für die Deko 2500 Euro zahlt. Daneben hockt eine stattliche Anzahl von Osterhasen – ein besonderes Bild, das hier nicht gezeigt wird, weil Pressefotos vom Niedergang des Traditionshauses nicht erwünscht sind.
Karstadt Harburg wird etagenweise geschlossen
Stammkunden haben es schwer: Die Reste der Abteilungen wurden zusammengelegt, nur ein Teil der Ware liegt noch am gewohnten Platz. Der dritte Stock ist bereits abgesperrt. „Bis Ende dieser Woche wird voraussichtlich auch der zweite Stock geschlossen“, sagt Marcus Junker, Betriebsratsvorsitzender von Karstadt Harburg.
Der Teamleiter Logistik ist für die Betriebsratsarbeit von seinem eigentlichen Job freigestellt worden. „Dort hätte ich ohnehin nichts mehr zu tun, denn wir haben keine Wareneingänge mehr.“ Nur Verpackungsmaterial wird noch angeliefert – schließlich sollen auch stark reduzierte Gläser und andere empfindliche Ware heil bei den Kunden ankommen.
Karstadt Harburg zieht Schnäppchenjäger an
Diese kommen zahlreich, angelockt von hohen Rabatten. Am Mittwochmorgen sammeln sich kurz vor 10 Uhr gut 30 Schnäppchenjäger am Eingang Harburger Ring und stürmen in den Laden, als geöffnet wird.
Die Kehrseite der Rabatte: Nach rund zwei Monaten Abverkauf sind nicht nur im Untergeschoss, sondern auch auf den drei verbliebenen Etagen viele leere Regale zu sehen. Junker schätzt, dass vielleicht noch 20 Prozent des ehemaligen Angebots übrig ist.
Frauen mit großen Füßen können noch fündig werden
Frauen mit großen Füßen können noch fündig werden, ab Schuhgröße 40 sind noch Exemplare zu haben. Gleich um die Ecke haben Reste von Haushaltswaren und Bettwäsche einen Platz gefunden.
„Alle paar Stunden sieht es hier anders aus“, sagt Junker und grüßt eine Kollegin, die gerade mit leeren Ständern an ihm vorbeiläuft. Bislang sei der Abverkauf sehr zügig verlaufen, sagt der Betriebsratsvorsitzende. „Je nach dem, wie die kommenden Wochen laufen, kann es sein, dass wir bereits Mitte Juni schließen.“
Karstadt-Mitarbeiter: „Das böse Erwachen wird kommen ...“
Noch rund 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der Harburger Filiale beschäftigt; eine gute Handvoll hat neue Jobs gefunden. Oftmals seien Bewerbungen an zu niedrigen Gehältern gescheitert, sagt Junker. „Viele Kollegen sind hier langjährig beschäftigt. Obwohl wir jährlich zur Sicherung der Filiale auf 5500 Euro verzichtet haben, wichen die Angebote erheblich von den jetzigen Gehältern ab.“
Die unsichere berufliche Zukunft sei aber noch kein großes Thema in den Gesprächen unter Kollegen: „Noch sind wir alle durch den Ausverkauf viel zu beschäftigt. Das böse Erwachen wird kommen, wenn wir alle zuhause sind.“
Durchschnittsalter des Karstadt-Teams liegt bei 51 Jahren
Der Wechsel zu anderen Filialen, im Galeria-Karstadt-Jargon „Fortführungsfilialen“ genannt, ist wenig attraktiv. Auch dort wird Personal abgebaut, und nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre ist nicht sicher, dass andere Filialen eine Zukunftsperspektive geben können. „Aus unseren Reihen ist niemand von denen, die eine neue Stelle gefunden haben, im Unternehmen geblieben“, sagt Junker.
Das Durchschnittsalter des Karstadt-Teams liegt bei 51 Jahren, die Betriebszugehörigkeit im Mittel bei 25 Jahren. Marcus Junker ist seit 1985 im Haus, hat hier seine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann gemacht.
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Wie die anderen Kollegen wird der 57-Jährige zur Jahresmitte in eine Transfergesellschaft wechseln. Dort wird bis Jahresende Kurzarbeitergeld gezahlt (60 Prozent, bei Familien 67 Prozent des Gehalts). Das Unternehmen legt 13 Prozent obendrauf. Er hoffe, dass die Zeit ausreiche, um zur Ruhe zu kommen, sich neu zu orientieren und einen Job zu finden, so Junker.
Wenn Karstadt Harburg im Laufe des Junis seine Türen endgültig schließt, fehlen nur vier Jahre zum 100-Jahres-Jubiläum. Seit 1927 ist das Kaufhaus in Harburg präsent, mit 18 Jahren Unterbrechung, nachdem das alte Gebäude 1944 durch einen Bombenangriff zerstört wurde. 1962 wurde das heutige Gebäude eingeweiht. Was aus ihm wird, ist unklar.