Hamburg. Eine Ranzenfachhändlerin über Kosten und Konflikte beim Kauf. So kümmert sich eine junge Stifterin um bedürftige Erstklässler.
Sie füllen fünf Regalreihen aus, über Eck, bis unter die Decke. Dort stehen sie, wartend aneinandergereiht wie artige Schüler: Schulranzen. Modelle mit Kirschanhängern, Feuerwehrpatches, LED-Lichtern, Reflektortaschen.
Denn heute kauft man den baldigen Erstklässlern, die im Sommer in die Hamburger Grundschulen kommen, keine schlichte Aufbewahrung für Schulsachen mehr, heute schafft man sich ein wahres Statussymbol an. Abzulesen zuerst am Preis, rund 250 Euro muss man mindestens ausgeben – die günstigsten Modelle bei den Fachhändlern kosten 219 Euro, die teueresten 299 Euro.
Schulranzen kosten bis zu 300 Euro
„Beim Preis verhandle ich nicht“, sagt Karsta Held, Inhaberin des Schulbedarfs- und Spielwarenladens „Schreibhelden“ am Hans-Henny-Jahnn-Weg 69 auf der Uhlenhorst. „Natürlich werden wir das oft gefragt, aber wir halten uns strikt an die unverbindliche Preisempfehlung der Hersteller, sonst wäre es nicht mehr rentabel.“
Leichtes Material, Langlebigkeit, Ausstattung mit Turnbeutel, gefülltem Mäppchen und Schlamperrolle, Brust- und Beckengurt, Rückenpolster oder Heftbox seien Argumente für den Preis. In ihrem Eckgeschäft kämpft die einstige Forschungs-MTA leidenschaftlich dafür, dass der richtige Ranzen auf dem Rücken des dazu passenden Jungen oder Mädchen landet – was nicht immer einfach ist.
„Ich liebe die Ranzensaison, die schon im Januar beginnt wirklich“, sagt Held, „wenn hier die Kinder mit ihren Eltern oder Großeltern, Patentanten und Geschwistern durchs Geschäft wuseln und aufgeregt den Ranzen für den Schulstart aussuchen.“ Rund die Hälfte ihrer bestellten Ware ist nach eigenen Angaben bereits abverkauft, im Januar seien Anrufe zu limitierten Sondermodellen von Kunden gekommen.
Tränen beim Schulranzenkauf: Es weinen nicht nur die Kinder
Doch es komme auch vor, dass nach dem ausgiebigen Vermessen der zukünftigen Erstklässler, der Beratung zu Größe und Gewicht, Passform, dem Probieren unterschiedlicher Modelle Tränen flössen. „Wir hatten hier schon weinende Kinder und weinende Mütter, wenn sich nicht geeinigt werden kann. Dann gehen die Vorstellungen zu weit auseinander.“
Die Kinder seien motivorientiert, Einhörner, Fabelwesen, bekannte Figuren, das seien die Bilder auf den Tornistern, die von Kindern ausgesucht würden. „Eltern denken daran, dass Motive vielleicht nach drei Jahren out sind, ihnen ist das Gewicht, eine zurückhaltende Farbe und die Höhenverstellbarkeit wichtiger.“
Hamburger Ranzenfachhändlerin hat sich gegen Beratungsgebühr
In solch verzwickten Fällen rät die Fachfrau zur berühmten „Nacht zum Drüberschlafen“, denn „dann noch weitere Modelle – wir empfehlen die Entscheidung zwischen drei Modellen in der engeren Auswahl – vorzustellen, verwirrt meistens nur noch mehr“, weiß Held, die froh ist, dass die allermeisten strahlend mit dem neuen Schulranzen ihr Geschäft verlassen.
Jedoch, am liebsten verkauft sie natürlich nach der zeitintensiven Beratung gern sofort, wurde das Fachwissen auch schon öfter ausgenutzt. „Wir hatten schon überlegt, ob wir eine Beratungsgebühr erheben sollen, die dann beim Kauf natürlich entfallen würde“, sagt sie, „denn es gibt die Eltern, die Modelle fotografieren, sich alles notieren und dann im Internet bestellen.“ Vielleicht bekäme man dort den identischen Ranzen etwas günstiger, nachvollziehbar sei es bei den Preisen.
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Schreibhelden-Fachhändlerin hält ihre Kunden mit Aktionen
Held und ihr Team haben sich gegen eine Gebühr entschieden, sie stemmen sich lieber mit Aktivitäten gegen das Netz: Held bietet beim Ranzenkauf zusätzliche Geschenke wie eine kleine gefüllte Schultüte, einen weiteren Satz Klettis für die Ranzenverschönerung oder Reflektortaschen an.
Dazu organisiert sie Kinderschminken, Bastelnachmittage oder die beliebten Spraydays, bei denen eine Graffito-Künstlerin die gekauften Ranzen und Schulrucksäcke mit persönlichen Motiven individualisiert. Für diese kostenlosen Aktionen ständen die Kunden Schlange, es gibt Wartelisten. Und auch bei Problemen mit dem Ranzen in den Folgejahren seien sie immer Ansprechpartner und helfen mit Leihranzen aus.
3500 Hamburger Kinder ohne Schulranzen am ersten Schultag
In den Genuss, bei Fachhändlern wie Karsta Helds „Schreibhelden“, „Otto F. K. Koch“ in Eppendorf, „Lerche im Alstertal“ oder „Leder Israel“ in Eimsbüttel ausgiebig durch die Regale zu stromern und verschiedene Ranzen auf dem Rücken zu spüren, kommen jedoch überschlagsweise mindestens 3500 kleine Hamburger nicht. Ihren Eltern fehlt schlicht das Geld dafür.
Im Bürgergeld beispielsweise, das der Grundsicherung, also der Sicherstellung des Lebensunterhalts dient, sind 174 Euro für den jährlichen Schulbedarf eines Kindes berechnet. Da bleibt nichts für einen Schulranzen übrig, da die Erstausstattung ohnehin sehr viel Geld kostet. Und so gehen jedes Jahr Kinder ohne Ranzen zu ihrer Einschulung.
Kinder mit Plastiktüte zur Einschulung? Stifterin steuert gegen
„Die Vorstellung, dass hier in Hamburg Kinder mit einer Plastiktüte in die Schule müssen, dieses Bild hat mich nicht losgelassen“, sagt Carolin Schnoeckel. Die 29-Jährige ist selbst Mutter einer kleinen Tochter und gründete jüngst ihre „kindsein Stiftung“ mit Sitz in der Löwenstraße. Erst vergangene Woche wurde diese offiziell anerkannt. „Als erstes Projekt werden wir bedürftigen Hamburger Kindern Schulranzen zukommen lassen“, sagt sie.
In den zurückliegenden Monaten hat die Vorsitzende Schnoeckel Kitas, Grundschulen, gemeinnützige Einrichtungen angerufen und -geschrieben oder besucht, um den Bedarf festzustellen. „Aus den Einrichtungen wurde mir sofort gespiegelt, dass das ein Riesenproblem ist, und schon vor der offiziellen Gründung hatte ich 400 Bestellungen.“
Kostenlose Schulranzen – Hamburger Stifterin rechnet mit 4000 Anträgen
Aktuell können alle Eltern sich an Träger wie Kitas oder Schulen oder andere Stiftungen wenden, die dann über die Homepage www.kindsein.org ohne viele Angaben die Anzahl der benötigten Ranzen an Schnoeckels Stiftung senden können. „Ich rechne mit 3000 bis 4000 Bestellungen, die Hersteller haben mir versichert, dass sie uns auch mehr schicken können, falls erforderlich.“
Durch das Grundkapital von zehn Millionen Euro, das aus dem Vermögen ihres Ehemanns Sebastian Schnoeckel, der im Wohnungsbau und der Finanzverwaltung arbeitet, stammt, rechnet die Juristin mit einem jährlichen Volumen von 200.000 bis 300.000 Euro – eine stattliche Summe, die den kleinsten Hamburgern zukommen soll.
Schulranzen: Bedürftige Kinder erfahren nicht, dass die Ranzen gestiftet wurden
„Das Tolle an einer Stiftung ist für mich der Ewigkeitsgedanke“, sagt Schnoeckel. „Ähnlich wie bei der Kindheit, die man auch ewig in sich trägt, die einen für das gesamte Leben prägt und vieles vorgibt.“ Deshalb hat Schnoeckel drei Säulen entworfen: Kindsein in der Schule, Kindsein in der Küche und Kindsein in den Ferien.
„Das sind die Bereiche, die ich mich an mein Großwerden in der Eifel mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern erinnern.“ Unbeschwerte Ferien am Meer, Strandtage, Brot backen in der Küche und eine Schulzeit voller Freude und Leichtigkeit. Und dazu sollen die gestifteten Ranzen – es gibt vier farbenfrohe Modelle mit unterschiedlichen Klettstickern – beitragen.
Was Schnoeckel wichtig ist zu betonen: „Es wird keine offiziellen Übergaben geben, die Eltern können sich die Ranzen ganz unkompliziert bei ihrer Einrichtung Anfang der Sommerferien abholen, sodass die Kinder nie erfahren, dass ihr Schulranzen gespendet wurde. Es soll einfach der Ranzen sein, den die Eltern ihrem Kind zum ersten Schultag geschenkt haben.“ Die Ranzenaktion wird es von diesem Jahr an dauerhaft geben – ein Initialprojekt für die Ewigkeit.