Hamburg. Dieter Lenzen über die Frage, warum der Unterricht eigentlich so früh beginnt sowie die Idee einer „Gleitzeit“ für Schüler.

In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob es nicht für alle Beteiligten, insbesondere aber für die Leistungen der Kinder, besser wäre, wenn die Schule später begänne?

Lars Haider: Ich gebe zu, dass ich Sie, lieber Herr Lenzen, gern in Ihrer Rolle als Pädagoge missbrauche. Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass wir heute über ein Thema sprechen können, das mich beschäftigt, seit ich zur Schule gegangen bin. Ich hatte das Glück, sowohl von der Grundschule als auch vom Gymnasium nur fünf Fußminuten entfernt zu wohnen, und fand es trotzdem immer furchtbar, dass die Schule um 8 Uhr beginnen musste.

So ist es in der Regel bis heute, und ich frage mich: Warum muss der Unterricht so früh beginnen? Und ich frage das gerade für Kinder, die nicht wie ich einen kurzen Schulweg haben ...

Dieter Lenzen: Mein Schulweg war noch kürzer, eine halbe Minute, denn meine Familie wohnte direkt neben der Schule. Trotzdem bin ich auch meistens müde gewesen. Was wir vielleicht erst einmal festhalten müssen, weil das viele Menschen gar nicht wissen, ist, dass der Unterrichtsbeginn nicht zentral vorgeschrieben wird.

Die Schulgesetze geben lediglich einen groben Rahmen für einen möglichen Unterrichtsbeginn vor. Aber in den meisten Bundesländern kann eine Schule für sich entscheiden, genauer gesagt die Schulversammlung.

Wenn man sich den Schulbeginn anschaut, muss man sich, wie so oft bei Dingen, die anscheinend seit Ewigkeiten gelten, fragen, warum das früher einmal so beschlossen worden ist. Und ob die Gründe dafür heute auch noch gelten.

Dass der Unterricht früher in den Klosterschulen zeitig am Morgen begann, lag daran, dass man sich nach dem Gebetsrhythmus richten musste. Damals war es so, dass man um 5 Uhr angefangen hat. In Deutschland hat die Homogenisierung des Unterrichtsbeginns erst nach der Gründung des Deutschen Reiches stattfinden können. Gleichwohl findet man auch schon im Preußischen Landrecht am Ende des 18. Jahrhunderts entsprechende Regelungen. Der Lebensrhythmus wurde durch die Arbeit auf dem Land vorgegeben, also etwa durch die Zeiten, zu denen Tiere gefüttert werden mussten.

Problemfall Schulschwänzen: Das ergab ein Forschungsprojekt


  • So kommen Hamburgs neue Schulen bei den Eltern an

  • Die neuen Spitzenreiter bei Gymnasien und Stadtteilschulen

  • Was heute kaum noch eine Rolle spielt.

    Selbst die Notwendigkeit der Homogenisierung der Schulzeiten ist nicht mehr gegeben.

    Mir würden eher Gründe einfallen, den Schulbeginn weiter nach hinten zu legen. Etwa, dass es im Winter stockdunkel ist, wenn Kinder sich frühmorgens auf den Schulweg machen.

    Kommt hinzu, dass die meisten Kinder eben nicht in einer Stadt leben, wo die nächste Schule gleich um die Ecke ist. Es gibt Schulwege, die bis zu einer Stunde dauern und auch dauern dürfen. Wenn die Schule um 8 Uhr anfängt, müssen die Kinder um 6.45 Uhr mit dem Schulbus abgeholt werden, und entsprechend um 6 Uhr aufstehen, vielleicht noch früher. Schon das spräche dafür, dass man später beginnt. Es gibt aber auch Gründe, die darüber hinausgehen.

    Womit wir bei dem Thema Lernfähigkeit sind. Gibt es Erkenntnisse beziehungsweise Studien darüber, wie sich die Uhrzeit auf die Aufnahmefähigkeit und Leistungsbe­reitschaft der Schülerinnen und Schüler auswirkt? Meine Erfahrungen sind da eindeutig­: Es ist ein großer Unterschied, ob die Schule um 8 Uhr oder um 8.30 Uhr beginnt.

    Es ist wie folgt: Wenn man die Schlafzeit eines Kindes von zehn Stunden auf neuneinhalb Stunden verringert, kann die Leistungsfähigkeit um 30 Prozent sinken. Das bedeutet also: Wenn die Kinder früh rausmüssen, kann das ein Problem sein. Was übrigens nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Lehrerinnen und Lehrer gilt. Die haben schließlich auch einen Biorhythmus.

    Dann verstehe ich nicht, warum man als Schule nicht wenigstens um 8.30 Uhr statt um 8 Uhr anfängt. Wäre das aus Ihrer Sicht auch die beste Zeit?

    Ideal wäre 9 Uhr. Dass die meisten Schulen trotzdem weiter um 8 Uhr beginnen, hat zumindest in den Grundschulen stark mit den Lehrerinnen zu tun, von denen viele in Teilzeit arbeiten und deshalb ein Interesse daran haben, möglichst früh und kompakt ihren Unterricht machen zu können, ohne zu viele Leerstunden dazwischen.

    Das ist ein wichtiger Punkt, den man beachten muss, weil sonst viele Lehrerinnen den Beruf gar nicht ausüben könnten oder würden. Ein weiteres Argument für den frühen Beginn ist, dass man in Schulen, die keine Ganztagsschulen sind, dann zu einem Zeitpunkt Schluss hat, der es den Kindern ermöglicht, zu Hause mittagzuessen.

    In Hamburg stellt sich die Frage nicht, dort gibt es ein funktionierendes Ganztagsschulsystem, die Kinder werden sowieso bis in den Nachmittag hinein betreut. Beste Voraussetzungen also, um morgens später anzufangen, wenn das erwiesenermaßen Auswirkungen auf den Lernerfolg hat.

    Und wenn man dann nach hinten raus mit der Zeit nicht hinkommt, muss man vielleicht auch mal darüber nachdenken, bestimmte Fächer weniger zu unterrichten. Das Thema kommt sowieso auf uns zu in einer Zeit, in der es zu wenig Lehrerinnen und Lehrer für zu viele Schülerinnen und Schüler geben wird, auch in Hamburg.

    Das ist sicherlich ein Problem. Ich würde aber davor warnen, Fächer zu gewichten in ihrer Wichtigkeit. Das kann man nur machen, wenn man sich bewusst mit Lehrerinnen und Lehrern anlegen will.

    Es kann ja notwendig sein, sich über Fächer Gedanken zu machen, nicht, weil sie weniger wichtig sind, sondern weil es dafür zu wenig Lehrerinnen und Lehrer gibt. Ich kenne jetzt schon Grundschulklassen, die deswegen keinen Musikunterricht haben.

    Es gibt inzwischen Versuche von Schulen, so etwas wie eine Gleitzeit einzuführen. Der verbindliche Unterrichtsbeginn für alle ist um 9 Uhr, aber ab 8 Uhr werden bereits Fächer angeboten, die man umschichtig machen kann, etwa Sport oder Musik. Für die, die um 9 Uhr kommen, gibt es nachmittags noch mal ein Angebot, sodass man, Stichwort Gleitzeit, wählen kann, wann man was macht. Das sieht auf den ersten Blick so aus, als ob man mehr Kräfte braucht, aber das ist nicht richtig: Man braucht mehr Unterricht, das ist nicht dasselbe.

    Wir sollten noch einmal einen Blick auf die Eltern und deren Arbeitsbeginn werfen. Denn in vielen Teilen unserer Wirtschaft ist Gleitzeit längst üblich ...

    Die Behauptung, dass alle Eltern früh anfangen müssen, stimmt auf jeden Fall nicht mehr. Wir sind inzwischen eine Bürogesellschaft, in der seit Neuestem viele Menschen von zu Hause und sehr flexibel arbeiten können. Im öffentlichen Dienst beginnt die Gleitzeit um 9 Uhr, es gibt auch Diskussionen, sie um 10 Uhr beginnen zu lassen.

    Interessant, dass man bei den Erwachsenen über 10 Uhr diskutiert und bei den Kindern bei 8 Uhr bleibt. Ich habe noch eine andere Frage: Würden Sie empfehlen, in der ersten und zweiten Stunde möglichst keine Arbeiten und Tests schreiben zu lassen?

    Wenn man um 8 Uhr beginnt, würde ich das. Ich bin sicher, dass man zu anderen Ergebnissen kommt, wenn man Schü­lerinnen und Schüler eine Arbeit in der ersten oder in der dritten Stunde schreiben­ lässt, darauf sollte man achten. Da wird es Unterschiede geben, die man auch durch einen Relativierungsfaktor lösen könnte.

    Soll heißen: Wenn eine Klassenarbeit um 8 Uhr geschrieben wurde, wird sie automatisch anders bewertet als eine entsprechende Arbeit um 11 Uhr. Klingt etwas abenteuerlich, aber lösen kann man all diese Probleme, wenn man mehr Flexibilität in das Schulleben bringen will.