Hamburg/St. Gallen. Dynamik von Hass: Karl Weilbach beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Persönlichkeit von Amoktätern. Was er über Philipp F. sagt.
Was mag dazu geführt haben, dass Philipp F. von langer Hand geplant hat, bei einem Überfall möglichst viele Angehörige seiner ehemaligen Glaubensgemeinschaft zu töten? Der Schweizer Kriminologe Karl Weilbach aus St. Gallen beschäftigt sich seit seinem Studium in Hamburg mit den Umständen, die zu Amokläufen führen, und mit der Persönlichkeit der Täter.
Thema seiner Doktorarbeit war das Attentat in Schweizer Ort Zug, bei dem 2001 während einer Sitzung des Kantonsrates 14 Politiker erschossen worden waren. Heute betreibt Weilbach eine Forensische Praxis für die Therapie und Prognostik von Gewalt- und Sexualstraftätern.
Kriminologe über Amoktäter: "Neigen zu Selbstglorifizierung"
„Amoktäter zeichnen sich meist durch starke Selbstbezogenheit aus“, betont er im Gespräch mit dem Abendblatt. „Hierzu gehören ein erhöhtes Anerkennungsbedürfnis, eine extreme Empfindlichkeit und Kränkbarkeit sowie Defizite in der Empathiefähigkeit.“ Den überwiegend männlichen Einzelgängern, die sich oft als „lonely wolf“ sähen, fehlten vertrauensvolle emotionale Bindungen, zumal sie sich selbst sozial zurückzögen und gerade in der Krise Nähe vermieden.
Oft haben sie ausgeprägte narzisstische Züge, bauen sich eine „Pseudomännlichkeit“ auf, neigen zu Selbstglorifizierung und Besserwisserei. Dazu passe das Buch, dass Philipp F. geschrieben habe, so Weilbach. „Darin will er eine besondere Botschaft in die Welt hinausposaunen und sich damit aufwerten.“
Amoklauf Hamburg: Das sagt ein Schweizer Kriminologe über Philipp F.
Der Hamburger Amoktäter, der früher zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehörte, dürfte angesichts vorausgegangener Konflikte und des Ausschlusses aus der Gemeinschaft die Welt zunehmend als feindselig und gegen sich gerichtet empfunden haben. Wenn der Ausschluss darüber hinaus noch zu sozialer und moralischer Ächtung führe, multipliziere dies die erlebte Kränkung um ein Vielfaches. „Aus seiner Sicht mussten die erlebten Demütigungs- und Ohnmachtsgefühle dann in Stärke umgewandelt werden“, so Weilbach.
Antrieb dabei sei der Hass. Der Hass gegen die vermeintlichen Leidverursacher, die Schuld am Scheitern des Akteurs seien und daher bestraft werden müssten. „Hass ist wie Gas – er steigt und muss sich irgendwann entladen“, so Weilbach. Die Amoktat sei daher ein gezielter Bestrafungsakt, kein „Durchdrehen“. Sie werde von dem Täter als Rache- und Vergeltungsakt angesehen und akribisch vorbereitet.
Das Denken und Fühlen des Täters folgt aus Sicht Weilbachs zwei Mechanismen: So sehe der Akteur die Welt nicht mehr in ihrer Vielfalt und Komplexität, sondern fokussiere sich auf ein subjektiv wahrgenommenes Selbst- und Weltbild – und überschreite schließlich, in einer „Tat der Entgrenzung“, die letzten moralischen Schwellen. „Das führt dann zum gänzlichen Zusammenbruch der normalerweise im Menschen innewohnenden Tötungshemmung“, so Weilbach.
Kriminologe: Philipp F. wollte mit Suizid „finalen Triumph“ suchen
Der Angriff am „Tag des Zorns“ besiegele die Intention des Täters, sich und der Welt zu beweisen, dass er als vermeintlich sozial Ausgeschlossener immer noch selbst in der Lage sei, über sein Schicksal und das anderer zu bestimmen. „Im Fall von Philipp F. ging es offenbar um den endgültigen Punkt seiner Abkehr von der sozialen Gemeinschaft – also der Zeugen Jehovas.“
Mit dem Suizid habe Philipp F. wohl die eigene vermeintliche Stärke besiegeln, den „finalen Triumph“ suchen wollen. „Zusätzlich hat er mit der Selbsttötung demonstriert, dass er niemals von einer sozialen Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden kann – weder von der Justiz noch von der betroffenen Religionsgemeinschaft.“ Die Selbsttötung des Täters sei also kein Ausdruck von Depression oder Reue, sondern das letzte Element extremer Hass- und Bestrafungsbedürfnisse.
Amoktäter: Darum handelt es sich fast ausschließlich Männer
Dass die Dynamik von Hass bei Männern deutlich ausgeprägter ist als bei Frauen, sei ein wesentlicher Aspekt bei der Frage, warum fast ausschließlich Männer Amoktaten verüben. „Es gibt nur ganz wenige Attentäterinnen, denn Frauen greifen sozialisationsbedingt seltener nach aggressiven Konfliktlösungen. Sie richten Hass und Aggression eher gegen sich selbst.“, so Weilbach. Dagegen hätten Männer eine große Affinität zu einem „Sieger- und Verlierer-Muster“. „Am Ende will ,Mann’ der Sieger sein.“
Gerät der Mann ins Hintertreffen, gefährde dies seine Männlichkeit. „Kommt es da zu sozialen Ausschlusserfahrungen – etwa in Gruppen oder auf dem Arbeitsmarkt – kann das besonders bei labilen Personen eine tiefe männliche Identitätskrise auslösen.“
Bei Philipp F., der viele wechselnde Arbeitsstellen hatte, bahnte sich wohl über längere Zeit eine krisenhafte Entwicklung an. Instabile Persönlichkeiten wie er würden ihre Männlichkeit dann verstärkt inszenieren, um das Versagen und die eigene Verletzlichkeit zu verbergen. Ein sogenannter „Amoklauf“ könne also als (untauglicher) Lösungsversuch für männliche Identitätskonflikte betrachtet werden, gibt Weilbach zu bedenken. „Der Betroffene folgt seinem männlichen Rollenskript durch Aufrüstung, Selbstermächtigung und Grenzenlosigkeit – und setzt seine Selbstinszenierung als Mann und Held in einer erbarmungslosen Schlussaufführung um.“
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Amoklauf Hamburg: Novellierung des Waffengesetzes kann helfen
Eine sinnvolle Novellierung des Waffengesetz könne helfen, solche möglichen „Gefährder“ auch dann zu erkennen, wenn sie sich – wie Philipp F. – nach außen zunächst eloquent und unauffällig gäben. „Mit jedem, der eine Waffe besitzen oder erwerben will, sollte ein fundiertes Abklärungsgespräch geführt werden“, fordert der Wissenschaftler. Dazu brauche es geschulte Fachleute und einen Fragenkatalog, der zentrale Punkte zur Einschätzung der Persönlichkeit behandle.
Geklärt werden müsste insbesondere, ob es in der Vergangenheit oder aktuell psychische Belastungen oder mit Gewalt und Drohungen verbundene Delikte gab oder gibt, wie das aktuelle Problem- und Konfliktlösungsverhalten der Person beurteilt wird, warum der Wunsch nach einem Waffenkauf oder -besitz besteht und wie der Befragte reagiert, wenn ihm Grenzen aufgezeigt werden.
Wichtig sei aber auch, die Schützenvereine und Schießclubs mit ins Boot zu holen, betont Weilbach. „Die sollten nicht nur betrachten, wie gut oder schlecht jemand schießt. Sondern sich auch fragen, mit wem sie es zu tun haben und wie sie als Verein selbst ethische Regeln verteidigen.“