Hamburg. Ein 35-Jähriger hat bei den Zeugen Jehovas ein Blutbad angerichtet. Wie die Tat ablief – und warum es nicht noch mehr Opfer gab.
Innerhalb von wenigen Minuten am Donnerstagabend endet das Leben von acht Menschen in Hamburg: Sieben werden vom Amokläufer Philipp F. getötet, bevor der 35-Jährige die Waffe gegen sich selbst richtet.
Die Zahl der Opfer im Haus der Zeugen Jehovas an der Deelböge in Alsterdorf hätte sogar noch viel höher sein können, das illustriert der von der Polizei geschilderte Ablauf des Einsatzes.
Amoklauf in Hamburg: So lief die Tatnacht ab
In dem dreigeschossigen Gebäude an der Deelböge kommen um 19 Uhr Gemeindemitglieder der Zeugen Jehovas zum Gottesdienst zusammen, drei Dutzend insgesamt laut eines Sprechers der Gemeinde. Zwei Stunden später beginnt der Amoklauf auf dem Parkplatz.
Die meisten Gemeindemitglieder sind schon im Gotteshaus, als Philipp F. eine Frau unter Feuer nimmt, die noch im Auto sitzt und einparkt. Zehn Einschüsse werden im Wagen später rekonstruiert. Die Frau kann leicht verletzt im Auto fliehen, der Täter lässt so von ihr ab.
Philipp F. besaß die Tatwaffe ganz legal
Er schießt dann durch eine Scheibe an der Nordseite auf die betenden Menschen im Gebäude, dringt dann durch die zerborstene Scheibe ein. Ohne Pause schießt er immer weiter aus seiner halbautomatischen Pistole Heckler+Koch P30. Philipp F. ist Sportschütze. Er ist somit legal im Besitz der Waffe
Die erste Alarmierung geht um 21.04 Uhr bei der Polizei ein. Im Sekundentakt folgten weitere 46 Notrufe. Wie es scheint, tötet der Angreifer hilfesuchende Gottesdienstbesucher, noch während sie mit der Polizei telefonieren. Um 21.08 Uhr trifft der erste Streifenwagen am Tatort ein, schon eine Minute darauf sind die Spezialkräfte der USE vor Ort.
USE: speziell geschulte Polizeibeamte für den robusten Einsatz
USE steht für „Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen“. Das sind speziell geschulte und ausgestattete Polizisten aus der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit BFE. Nach dem Wiener Terroranschlag von 2020 hatte die Hamburger Polizei diese Truppe nach dem Vorbild der österreichischen „Wega“ gegründet – robuster ausgebildet, robuster ausgestattet.
Diese Truppe fährt nachts in Hamburg zusätzliche Streife – aber in der Regel nur montags bis donnerstags von 12 bis 22 Uhr. Zwei Gruppen sind dann in Transportern in der Stadt unterwegs, um die Polizeien an den Dienststellen zu unterstützen. „Wir können das USE-Modell nicht 24/7 vorhalten, dafür fehlt uns das Personal“, sagt am Freitag Hamburgs Schutzpolizeichef Matthias Tresp.
Die USE-Beamten sind nach Minuten am Tatort – zum Glück
Es ist reines Glück, dass die USE-Einheit noch keinen Feierabend hat. Spätestens um 22 Uhr wäre die Schicht zu Ende gewesen. So sind es vom Polizeipräsidium zum Tatort aber gerade mal zwei Kilometer. Die Eingangstür des Gotteshauses ist von innen verschlossen.
Um 21.11 Uhr zerschießen USE-Polizisten die Glasscheibe der Tür, sperren sich mit dem innensteckenden Schlüssel auf. Der Täter flieht vor ihnen ein Stockwerk nach oben. Damit hat die USE ihre erste beiden Ziele erreicht. Sie ist im Gebäude und hat den Täter isoliert und von möglichen weiteren Opfern getrennt.
Philipp F. schießt 135 Mal – sieben Menschen sterben
Im Gemeindesaal im Erdgeschoss offenbart sich den Polizisten ein grauenhaftes Bild: Auf dem Boden liegen Menschen in ihrem Blut auf dem Boden. Verletzte brauchen Hilfe, die 20 verängstigten und zutiefst schockierten Zeugen Jehovas, die körperlich unversehrt sind, brauchen dringend psychologische Betreuung.
Durch die Schüsse sterben sieben Menschen, darunter ein ungeborenes Kind im Alter von sieben Monaten noch im Leib seiner Mutter. Die schwangere Frau soll von einem Bauchschuss getroffen worden sein. Sie selbst überlebt. Weitere drei Personen werden lebensbedrohlich, drei schwer sowie ein Mann leicht verletzt. Neun leer geschossene Magazine entdeckt die Polizei später – 15 Patronen fasst jedes einzelne.
Philipp F. schießt sich selbst in den Bauch
Dann hören die Beamten einen weiteren Schuss, aus dem Obergeschoss, in das Philipp F. vor den Beamten geflohen war: Neben dem Mann, der sich selbst in den Bauch geschossen hat, liegt eine Waffe. Die Polizisten sind sich sicher: Das ist ihr Mann. In einem Rucksack des Amokläufers finden sie weitere 20 Magazine mit je 15 Schuss, zwei weitere Magazine hatte Philipp F. noch bei sich.
- Acht Tote bei Amoklauf: Philipp F. war wohl psychisch krank
- Zeugen Jehovas: Die wichtigsten Fragen und Antworten
- Politiker reagieren: "Erschüttert über grausame Gewalttat"
An der Tankstelle gleich neben dem Gotteshaus der Zeugen Jehova zeichnet die Videoanlage den Angriff auf. Die Polizei hat die Bilder schnell vorliegen. Das Problem: Sie kann nach der Analyse nicht sicher sagen, ob es sich um einen oder vielleicht sogar um zwei Täter handelt, die auf den Filmen zu sehen sind. Später wird sich herausstellen, dass es einer war, und dass es sich bei dem möglichen zweiten Täter um einen Schatten gehandelt hat, was zunächst nicht erkennbar war.
Warnung für die Umgebung: "Gefahr durch lebensbedrohliche Lage"
Entsprechend werden zunächst aber weitere Einsatzkräfte aus ganz Hamburg und auch Schleswig-Holstein zusammengezogen, insgesamt spricht die Polizei später von 953 Beamten. Weil die Lage unklar ist, wird um 22.20 Uhr auch eine Warnung über das System Nina herausgegeben.
"Gefahr durch lebensbedrohliche Lage": Die Polizei bittet Anwohner, in ihren Häusern zu bleiben. Während Helfer die Verletzten und Traumatisierten versorgen, sucht die Polizei nach weiteren Hinweisen auch im Umfeld des Gebäudes. Scharfschützen stehen auf den Nachbargebäuden, auch der Polizeihubschrauber "Libelle" kreist über dem Gebiet. Zudem suchen Beamten nach Sprengstoff im Gebäude.
Amoklauf Hamburg: Erst um 3 Uhr gibt die Polizei Entwarnung
Als die Staatsanwaltschaft am Tatort eintrifft, ist noch nicht klar, ob es einen terroristischen Hintergrund gibt. Um 0.30 Uhr ordnet einer der drei Staatsanwälte die Durchsuchung der Altonaer Wohnung des Täters an. Hier finden sie 15 weitere geladene Magazine mit je 15 Patronen. Dazu kommen noch 4 Packungen Munition a 200 Schuss. Munition, Laptops, Smartphones werden sichergestellt, aber Hinweise auf politischen motivierten Terror ergeben sich nicht.
Gegen 3 Uhr schließlich läuft erneut eine Meldung über Nina und Katwarn. Die Polizei gibt Entwarnung. Philipp F. hat alleine gehandelt.