Hamburg. Ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas hat die Amoktat von Hamburg begangen. Der Mann hatte seine Gemeinde wohl nicht im Guten verlassen. Am Tag nach der Tat eilt Bundesinnenministerin Faeser an den Tatort.
Der Todesschütze von Hamburg ist der 35 Jahre alte Philipp F. gewesen, ein Ex-Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas. Diese habe er vor eineinhalb Jahren freiwillig, aber offensichtlich nicht im Guten verlassen, sagten Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde am Freitag bei einer Pressekonferenz. Bei der Tat am Donnerstag starben sieben Menschen und der Täter selbst, acht weitere Menschen wurden verletzt. Zu den Toten zählt die Polizei auch ein ungeborenes Kind. Der Deutsche war den Angaben zufolge Sportschütze, hatte seit Dezember 2022 eine Waffenbesitzkarte und war erst kürzlich von der Waffenbehörde aufgesucht worden.
Am Nachmittag sprach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Angehörigen und Freunden der Opfer bei einem Besuch am Tatort das tief empfundene Mitgefühl der Bundesregierung aus. „Es ist kaum in Worte zu fassen, was hier Furchtbares passiert ist. Was ein Täter mit dieser Amoktat anrichten konnte, ist wirklich grauenvoll.“ Sie sei tief bewegt, sagte die Ministerin.
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) bezeichnete die Tat als Amoklauf: „Eine Amoktat dieser Dimension - das kannten wir bislang nicht. Das ist die schlimmste Straftat, das schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt.“ Der Amoktäter hatte mehr als 100 Mal geschossen. Bei den Todesopfern handelt es sich den Angaben zufolge um vier Männer, zwei Frauen und einen weiblichen Fötus im Alter von 28 Wochen. Die Männer und Frauen seien zwischen 33 und 60 Jahre alt, sagte der Leiter des Staatsschutzes der Polizei, Thomas Radszuweit. „Alle Todesopfer sind deutscher Staatsangehörigkeit und starben jeweils durch Schusseinwirkung.“
Die tödlichen Schüsse fielen am Donnerstagabend gegen 21.00 Uhr während einer Veranstaltung im Gebäude der Gemeinde im Hamburger Stadtteil Alsterdorf. Binnen Minuten war die Polizei am Tatort: Um 21.04 Uhr seien die ersten Notrufe eingegangen. „Um 21.08 Uhr waren erste Kräfte vor Ort“, sagte Grote. Nur eine Minute später, um 21.09 Uhr, sei die Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen (USE) am Tatort gewesen.
Ein Sprecher der Glaubensgemeinschaft sagte, die Schüsse seien nach dem regulären Gottesdienst gefallen. Dieser habe um 19.00 Uhr angefangen und sei digital übertragen worden. 36 Menschen seien vor Ort gewesen, weitere 25 hätten sich digital zugeschaltet, sagte Michael Tsifidaris, Sprecher der Zeugen Jehovas in Norddeutschland. Um 20.45 Uhr sei die Veranstaltung beendet worden.
Die Einsatzkräfte retteten nach den Worten des Innensenators sehr wahrscheinlich etliche Menschenleben: „Wir haben es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit dem sehr, sehr schnellen und entschlossenen Eingreifen der Einsatzkräfte der Polizei zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind.“ Bis in den Freitagvormittag waren die Ermittler zur Spurensuche am Tatort unterwegs.
Faeser äußerte sich beeindruckt, wie großartig der Einsatz funktioniert habe. Es sei eine großartige Leistung der Hamburger Polizei. Das gelte für alle Rettungskräfte. „Wie schnell und umsichtig hier gehandelt wurde, das ist mehr als vorbildlich.“
Als Extremist war 35-jährige Schütze nach Angaben aus Sicherheitskreisen nicht bekannt. Seit dem 12. Dezember sei er im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole gewesen, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. Dabei habe es sich um die Tatwaffe gehandelt. Der 35-Jährige gab mehr als 100 Schüsse ab.
„Insgesamt hat er 9 Magazine à 15 Schuss verschossen“, sagte der Hamburger Staatsschutz-Leiter Radszuweit. Der Amoktäter stammt aus Memmingen in Bayern. Studiert habe er in München, sagte Radszuweit. Seit 2015 war er dpa-Informationen zufolge in Hamburg gemeldet, aufgewachsen ist er demnach in Kempten im Allgäu.
Die Waffenbehörde erhielt nach Angaben des Hamburger Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer im Januar einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F. Ziel des unbekannten Schreibers sei es gewesen, das Verhalten und die waffenrechtlichen Vorschriften in Bezug auf Philipp F. überprüfen zu lassen. F. habe laut dem Schreiben eine besondere Wut auf religiöse Anhänger gehegt, besonders auf die Zeugen Jehovas und seinen ehemaligen Arbeitgeber.
Die Beamten der Waffenbehörde hätten nach dem Hinweis weiter recherchiert. Anfang Februar sei F. von zwei Beamten der Waffenbehörde unangekündigt aufgesucht worden. Dies sei eine Standardkontrolle gewesen, die nach einem anonymen Hinweis erfolge. F. habe sich kooperativ gezeigt, sagte Meyer. Es habe keine relevanten Beanstandungen gegeben. Die rechtlichen Möglichkeiten seien damit ausgeschöpft gewesen.
Nach den Schüssen fand die Polizei laut Staatsanwaltschaft in der Wohnung des mutmaßlichen Täters auch eine größere Menge Munition. Der Leiter der Staatsanwaltschaft, Ralf Peter Anders, sprach von 15 geladenen Magazinen mit jeweils 15 Patronen und 4 Schachteln Munition mit weiteren 200 Patronen. Außerdem wurden Laptops und Smartphones sichergestellt, die noch ausgewertet würden.
Mögliche Konflikte innerhalb der Glaubensgemeinschaft schließen die Ermittler nicht aus. Polizeipräsident Meyer sagte, es gebe Hinweise auf einen Streit „möglicherweise aus dem Bereich der Zeugen Jehovas“. Das müsse geprüft werden, in den Akten habe man dazu nichts gefunden. Radszuweit sagte, die Frage von Streitigkeiten sei derzeit Gegenstand der Ermittlungen. Seinen Angaben zufolge hatte der Amokschütze Philipp F. die Hamburger Gemeinde vor anderthalb Jahren freiwillig verlassen, „aber offenbar nicht im Guten“.
Die Zeugen Jehovas zeigten sich in einer Erklärung „tief betroffen“. Zahlreiche nationale und internationale Politiker reagierten schockiert und betroffen auf den tödlichen Vorfall, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, äußerte sich „erschüttert“ über die „menschenverachtende Gewalttat in Hamburg“. Sein Gebet gelte den Verstorbenen, den Verletzten und den Angehörigen, schrieb der katholische Bischof am Freitag auf Twitter.