Hamburg. Ein Ex-Mitglied der Gemeinschaft hat in Hamburg acht Menschen getötet. Diese Ansichten steht hinter der religiösen Gemeinschaft.

Es sind Menschen mit Stehvermögen: Stundenlang harren die Zeugen Jehovas bei Wind und Wetter vor Bahnhöfen und in Fußgängerzonen aus. Werbend halten sie die Zeitschrift „Der Wachturm“ in ihren Händen. Ob in Hamburg, Paris oder auf den Südlichen Antillen in der Karibik – diese erst seit 2017 in Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannte Gemeinschaft missioniert in der Hansestadt und weltweit. Regelmäßig praktizieren die Zeugen das Handwerk des Klingelputzens und suchen das direkte Gespräch mit potenziellen Interessenten. Wer einmal Ja sagt, darf mit einem längeren Gesprächsverlauf über das bevorstehende Ende der Welt rechnen.

Was auf den ersten Blick Bewunderung für diese Gläubigen abverlangen könnte, wird durch das harsche System der Hierarchie, Ethik, der Absonderung und Repression getrübt. Ex-Mitglieder, wie eine 50-jährige Hamburgerin, sagen, dass ihnen ihre Kindheit und Jugend gestohlen worden sei. Wer austritt oder ausgeschlossen wird, verliert komplett die bisherige soziale Basis. Auch Eltern und Geschwister.

Amoklauf Hamburg: Die Zeugen Jehovas grenzen sich von anderen Gemeinschaften ab

„Diese Menschen müssen sich im Leben neu zurechtfinden. Ihre bisherigen sozialen Kontakte sind weg. Sie müssen ihre Zeit bei den Zeugen Jehovas innerlich verarbeiten und eine neue religiöse Orientierung finden“, sagt Pastor Jörg Pegelow von der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der Nordkirche am Freitag dem Abendblatt. Problematisch sei die klare Abgrenzung von anderen religiösen Gemeinschaften, die strikte Hierarchie und die eng geführte Bibelauslegung.

In Deutschland gibt es mit Stand Januar dieses Jahres nach Angaben der Gemeinschaft rund 176.000 Zeugen Jehovas, die ihren Glauben in 884 Königreichssälen – so nennen die Zeugen Jehovas ihre Kirchen – praktizieren. Die Deutschland-Zentrale befindet sich in Selters/Taunus.

Weltweit leben 8,7 Millionen Menschen als Mitglieder der Zeugen Jehovas

In Hamburg dürften es einige Hundert Mitglieder sein, weltweit sind es 8,7 Millionen. Wichtigster Treffpunkt ist der Königreichssaal, wie der in dem Gebäude an der Deelböge, ein schmucklos und funktional eingerichteter Raum, in dem die Zuhörenden von nichts abgelenkt werden. Denn sie sollen ihre Aufmerksamkeit einzig auf das Wort Jehovas lenken.

Am Anfang der Weltuntergangs-Gemeinschaft stand der Amerikaner Charles Taze Russell (1852-1916). Erst prophezeite er das Weltende für das Jahr 1872/73, dann für 1874. Das blieb bekanntlich genauso aus wie die erhoffte Verheißung des großen Friedensreiches Gottes auf Erden im Jahr 1914. Statt dessen begann in Europa der Erste Weltkrieg.

Die Gemeinschaft lehnt die Evolutionslehre ab

Während Russell keine neue Sekte gründen wollte, baute sein Nachfolger Joseph Franklin Rutherford (1869-1942) eine straff geführte Organisation mit Sitz in New York auf. „Es entstand ein Netzwerk gegenseitiger Kontrolle. Aus interessierten ‘Bibelforschern‘ wurden geschulte Wachturm-Verkäufer“, betonen Michael Utsch und Melanie Hallensleben von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.

Die Lehre erlaubt keine Abweichung: Die Zeugen lehnen die Evolutionslehre ebenso ab wie das christliche Dogma von der Dreifaltigkeit Gottes. Am Ende aller Tage gelangt ein heiliger Rest von 144.000 Zeugen Jehovas in die himmlische Herrlichkeit. Sie sind die Auserwählten. Bis heute ist die Sekte streng hierarchisch strukturiert. Ökumene wird ebenso abgelehnt wie gesellschaftliches Engagement und Militärdienst. Untersagt sind seit 1950 Bluttransfusionen, selbst wenn sie medizinisch dringend geboten oder sogar lebensrettend sind. Für ihren Glauben wurden die Zeugen Jehovas von den Nazis verfolgt und ermordet. In den Konzentrationslagern mussten sie einen lila Winkel als Erkenntniszeichen tragen.

Anhänger der Gemeinschaft wurden von den Nazis verfolgt

Der ehemalige Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Detlef Garbe, hat ihre Verfolgungsgeschichte intensiv erforscht. Seine Recherchen ergaben, dass keine andere Religionsgemeinschaft in Dritten Reich so unbeugsam den Nationalsozialisten widerstand wie die Zeugen Jehovas.